Der Arktische Ozean
bleibt für die Schifffahrt
ein gefährliches Wasser

Resolute/Montreal, 13. Januar 2011. Mit dem starken Abschmelzen der Eisfläche im Arktischen Ozean im Sommer öffnet sich das Eismeer für die Schifffahrt. Die Routen durch die Inselwelt Nord-Kanadas und entlang der Küste Sibiriens konnten in den vergangenen Jahren teils oder ganz befahren werden. Obwohl das Interesse an den Routen steigt und der Schiffsverkehr in der Arktis zunimmt, bleibt der Ozean im Norden ein gefährliches Wasser. Die Zukunft liegt nicht im Transitverkehr, der das Eismeer durchquert, um den Weg von Europa nach Asien zu verkürzen, sondern im Zielverkehr zu Gemeinden und Rohstoffquellen und in der Kreuzschifffahrt.
Die Industrie setzt auf die Nutzung der Eismeerrouten

In der kleinen kanadischen Arktisgemeinde Resolute beobachtet Wayne Davidson seit rund 30 Jahren Wetter und Eisbildung. Jetzt ist es in Resolute, 900 Kilometer nördlich des Polarkreises und an der Nordwestpassage gelegen, 24 Stunden dunkel. Die kahle Steinwüste ist eis- und schneebedeckt. Qausuittuq nennen die Inuit in ihrer Sprache Inuktitut die Gemeinde, was sinngemäß „Ort der langen Dunkelheit" oder „Ort ohne Morgendämmerung“ bedeutet. Es ist eiskalt. „Minus 22 Grad“, sagt Davidson. „Aber das ist acht Grad über dem Durchschnitt.“ Immer häufiger stellt er fest, dass die Temperaturen mehrere Grad über dem langjährigen Schnitt liegen. Auch im vergangenen Sommer war die Nordwestpassage passierbar. „Ein kleines Segelboot von Norwegen kam nach Resolute. Es gelang der Besatzung, die ganze Arktis zu durchkreuzen“, berichtet Davidson. Versorgungsschiffe erreichen Gemeinden im Norden leichter als noch vor wenigen Jahren.

Keine neue „Superautobahn“ für Schiffe

Der Rückgang des Arktiseises verändert die Perspektiven der Schifffahrt. Aber  Lawson Brigham, Professor für Geografie und Arktis-Politik an der Universität von Alaska in Fairbanks, mahnt diejenigen, die die Arktisrouten schon als „Superautobahn der Schifffahrt“ sehen: „Nicht so schnell“, sagt Brigham, der auch Vorsitzender der Kommission war, die für den Arktischen Rat eine Studie über arktische Schifffahrt ausarbeitete. Er hält es für überzogen, die Nordwestpassage durch Nord-Kanada oder die Nordostpassage an der russischen Eismeerküste als „neuen Panama- oder Suezkanal“ zu sehen. „Wer so denkt berücksichtigt nicht, dass es in der Arktis auf absehbare Zeit Eis geben wird“, sagte Brigham am Rande der Fachkonferenz „Arctic Shipping“ in Montreal dieser Zeitung. „Von November bis Juli wird dort Eis sein.“ Und monatelang ist es dort völlig dunkel.

„Die Durchquerung des Eismeeres faszinierte die Menschen über Jahrhunderte und beflügelt heute die Vorstellungskraft der Öffentlichkeit. Aber trotz Klimawandels bleibt das Zeitfenster für die Schifffahrt in der Arktis kurz und es wird immer noch Eis und Eisberge geben“, sagt Daniel Hosseus, Referent für internationale Schifffahrtspolitik beim Verband Deutscher Reeder. Aber auch wegen der mangelhaften nautischen Infrastruktur und aufwändiger bürokratischer Hindernisse insbesondere auf russischer Seite sei die Passage durch die Arktis auf absehbare Zeit „wirtschaftlich problematisch“. Der arktische Schiffsverkehr zu und von den Rohstoffquellen werde aber zunehmen. „Der Verkehr zur Rohstofferschließung ist wichtig und wird in Zukunft wichtiger sein“, meint Hosseus.

Arktische Routen würden Seeweg von Europa nach Asien verkürzen

Denn die Arktis ist ein gewaltiges Rohstofflager: das russische Schtockman-Gasfeld in der Barents-See, die Nickelvorkommen bei Norilsk an der sibirischen Eismeerküste, das Mary-River-Eisenerzprojekt auf der kanadischen Baffin-Insel, die Zink- und Bleimine Red Dog in Alaska, die bislang unerschlossenen Erdöl- und Erdgasvorkommen an Land und in küstennahen Gewässern sind nur einige Beispiele.

Die arktischen Routen würden den Seeweg von Europa nach Asien verkürzen und könnten bei Fahrten – etwa von Rotterdam nach Schanghai – die Kosten deutlich senken. Bei der Nordwest-Passage würden Schiffe von Europa die Inselwelt Nord-Kanadas durchfahren, die Nordküste Alaskas passieren und durch die Bering-Straße in den Pazifik gelangen. Die Nordost-Passage führt an der norwegischen und russischen Küste nach Osten bis zur Bering-Straße. Der Abschnitt zwischen  Nowaja Semlja und Bering-Straße wird auch „Nördlicher Seeweg“ genannt. Zudem wird  jetzt auch von einer „transpolaren Route“ gesprochen, die von Nord-Norwegen aus den Arktischen Ozean Richtung Bering-Straße durchqueren würde.

Während der Weg von Europa nach Asien durch den Panama-Kanal etwa 13.500 Seemeilen (annähernd 25.000 Kilometer) und durch den Suez-Kanal etwa 11.000 Seemeilen (etwa 20.000 km) lang ist, wäre er durch die Nordwest-Passage knapp 9000 Seemeilen (16.600 km) und durch Nordost-Passage/Nördlicher Seeweg nur 8500 Seemeilen (15.700 km) lang. Die transpolare Route würde ihn gar auf 7760 Seemeilen (14.350 Kilometer) verkürzen.

2009 erste kommerzielle Durchfahrt der Nordost-Passage

Die Beluga Shipping GmbH in Bremen setzt bereits jetzt auf die Nordost-Passage. Das Unternehmen machte im Sommer 2009 Schlagzeilen, als es ihm erstmals gelang, die Schwergutfrachter Beluga Fraternity und Beluga Foresight durch die nördliche Seeroute zu schicken – die erste kommerzielle Durchfahrt der Nordost-Passage. Die Schiffe brachten Kraftwerkskomponenten von Ulsan in Südkorea nach Novyy Port an der Ob-Mündung. Im August 2010 brachten erneut zwei eisverstärkte Schwergutfrachter Kraftwerksteile nach Sibirien.

Überschwänglich beschreibt der chinesische Politikprofessor Guo Peiqing die Bedeutung der Arktisrouten. Etwa die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts Chinas werde durch Export erwirtschaftet und 90 Prozent der Übersee-Exporte werde mit Schiffen abgewickelt. „Der Handel mit Europa und Nordamerika ist die treibende Kraft für China, die Arktis-Passagen zu nutzen.“ Die Arktispassagen würden Chinas Handelskosten deutlich reduzieren. Er verweist zudem auf die Piraterie vor Somalia und steigende Versicherungskosten. „Daher überlegen einige der größten Schifffahrtsunternehmen, ihre traditionellen Routen zu ändern.“

Verkehr zu Rohstoffstätten und Arktisgemeinden

Allein in Kanada stieg die Zahl der Schiffe, die in  Arktisgewässern kreuzen, von 2004 bis 2008 von 55 auf 107. Im Jahr 2004, das der Schifffahrtsstudie des Arktischen Rates zugrunde liegt, kreuzten etwa 6000 Schiffe in der Arktis, vor allem in den zu ihr gehörenden Randmeeren. Brigham glaubt an eine Zunahme des Verkehrs zu den Rohstoffstätten, der Versorgungsfahrten zu Arktisgemeinden sowie des Tourismus mit Kreuzfahrtschiffen.

Er bezweifelt aber, dass es in naher Zukunft eine größere Zahl regelmäßiger Linien entlang der Küsten geben wird. Einsparungen durch kürzere Strecken sind nur ein Teil der Rechnung. „Es wird weiterhin Eis geben, so dass Schiffe der Polarklasse benötigt werden, die deutlich teurer sind. Sie kosten 300 bis 400 Millionen Dollar. Dann will man sie nicht nur für für drei Monate nutzen können.“ Schwergutfrachter müssen von Eisbrechern begleitet werden, wofür hohe Gebühren zu entrichten sind. „Wenn man nur sechs bis acht Knoten fahren kann, bringt die Arktisroute keine Vorteile. Man muss zwölf bis 15 Knoten fahren können, damit es sich lohnt“, meint Brigham.

Gefahr durch unsichere Eisverhältnisse und ungenaue Karten

Hinzu kommen die unsicheren Eisverhältnisse, die selbst bei fortschreitendem Klimawandel Gefahren bedeuten. Schifffahrtswege können weiterhin blockiert sein. Auf eisfreiem Wasser kann heftiger Seegang die Schifffahrt beeinträchtigen. „Weniger Eis kann schwerere See bedeuten“, sagt David Vaughn, Kapitän der Polar Star der US-Küstenwache. Der Ozean ist nicht ausreichend kartografiert. „Die Ungenauigkeit der Karten und der hydrographischen Daten bereiten große Sorgen“, meint Vaughn. Das Eismeer ist flacher als die anderen Meere, Passagen zwischen Inseln haben nicht selten eine Tiefe von weniger als zehn Meter. Im Herbst 2010 lief in Kanada das Kreuzfahrtschiff Clipper Adventure auf Grund. Es dauerte fast zwei Tage, bis die Küstenwache ein Schiff zur Bergung der Passagiere vor Ort hatte. Im Notfall ist in der Arktis Hilfe oft weit entfernt. Es gibt nur eine geringe Zahl von Häfen und die Such- und Rettungskapazitäten sind begrenzt.

Exxon Valdez als mahnendes Beispiel

Aber strategische Interessen der Anrainer, der Verlust von mehrjährigem Eis, das Entstehen saisonaler Routen und künftige Öl- und Gasfunde werden die Schifffahrt  fördern. Der „Arktische Rat“, dem die USA, Kanada, Russland, Dänemark-Grönland, Finnland, Schweden, Norwegen und Island angehören, hat im „Arctic Marine Shipping Assessment (AMSA)“ Vorschläge für verstärkte Kooperation,  Einbeziehung der Ureinwohnervölker und Umweltschutz vorgelegt. Ölbohrungen und Öltransporte bringen Risiken für die Umwelt. Es geht  nicht nur um Unglücke wie bei der Exxon Valdez vor 20 Jahren oder jetzt im Golf von Mexiko. Zwischen 2007 und 2009 wurden Kanadas Küstenwache 1580 „Verschmutzungsereignisse“ im Zusammenhang mit Schiffen gemeldet. Die Staaten der Internationalen See-Schifffahrtsorganisation (IMO) wollen die heutigen Richtlinien für Schifffahrt in eisbedeckten Gewässern in einen verpflichtenden „Polarcode“ überführen. Er würde Vorschriften zur Bauweise von Schiffen, zu Betriebsabläufen und Umweltschutz enthalten. Ziel ist es, dass er 2012 in Kraft tritt.

Wayne Davidson in Resolute sieht, wie sich die Nordwest-Passage öffnet und die  Eisbarrieren, die den Schifffahrtsweg früher ganzjährig blockierten, verschwinden. „Drei Jahrhunderte lang schafften es Walfänger, die Grönlandwale jagten, nicht, die Nordwest-Passage zu durchfahren. Bis heute haben es Kapitäne in ihren Genen, dass die Nordwestpassage ein furchteinflößender Ort ist.“ Erst wenn mehrere Frachtschiffe sie durchkreuzt haben, „wird diese psychologische Barriere fallen“.

Gerd Braune

© Gerd Braune
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