„Wir erwarten, dass es
weiter nach unten geht“

Ottawa/Bremerhaven, 28. August 2012. Gespräch mit Professor Rüdiger Gerdes, Meereisphysiker am Alfred Wegener-Institut, über das neue Rekordtief des arktischen Meereises
Grund für den Eisrückgang ist der Verlust an Eisdicke

Herr Professor Gerdes, das National Snow and Ice Data Center und die Nasa haben jetzt aktuelle Zahlen über die Ausdehnung des Meereises veröffentlicht. Wir haben das Rekordtief von 2007 bereits unterschritten. Kommt das für Sie überraschend?

Nein, das kommt für mich nicht sonderlich überraschend. Wir haben ja seit einigen Jahren diese geringe Eisausdehnung und wir erwarten eigentlich, dass es weiter abwärts geht.

Und dass es jetzt so schnell und so früh nach unten ging?

Ja, es ist ein bisschen überraschend, dass wir jetzt schon Ende August das Minimum von 2007 unterschritten haben. Wir haben ja noch zwei, vielleicht auch drei Wochen, in denen das Eis noch schmelzen kann. Die Raten, mit denen das Eis zurückgeht, sind immer noch sehr hoch.

Was sagt dies über den Klimawandel und die Entwicklung in der Arktis aus?

Der Grund für den Eisrückgang, den wir seit vielen Jahren sehen, ist, dass das Eis an Dicke verloren hat. Es ist weniger Eisvolumen da. Das bedeutet, dass wir dünneres Eis haben, das in der Schmelzsaison größere Chancen hat zu verschwinden. Der Temperaturanstieg, der das bedingt, liegt zum einen am allgemeinen Temperaturanstieg durch die Treibhausgase. Wir dürfen aber nicht vernachlässigen, dass es auch weitere Faktoren gibt, insbesondere eine Warmphase der Atlantischen Multidekadischen Variabilität. Das trägt auch mit dazu bei.

Könnten Sie dies erläutern?

Bei der Atlantischen Multidekadischen Variabilität handelt es sich um eine natürliche Schwankung im Klimasystem. Wir glauben, dass sie mit Veränderungen der ozeanischen Umwälzbewegung im Atlantik verbunden ist. Sie hat eine Periode von 60 bis 80 Jahren. Sie ist eine unregelmäßige Schwankung. Seit Mitte der 90er Jahre sind wir auf dem aufsteigenden Ast, also in einer wärmeren Phase, und man kann sich ausrechnen, dass es eine Zeitlang so bleiben wird. Danach wird sie wieder in eine kältere Phase übergehen. Das bedeutet aber nicht, dass wir dann wirklich niedrigere Temperaturen bekommen werden, weil diese Oszillation den Trend durch die Treibhausgase überlagert. Gegenwärtig und in den nächsten 10, 20, 30 Jahren ist diese natürliche Variabilität eine wichtige Größe. Längerfristig wird sie aber hinter dem Temperaturanstieg durch die Treibhausgase zurückstehen.
Natürliche Schwankungen spielen eine Rolle, können aber als alleinige Ursache wohl weitgehend ausgeschlossen werden. Das Auftreten von extrem geringen Eisausdehnungen in sechs aufeinander folgenden Jahren deutet sehr stark auf einen anthropogenen, von Menschen verursachten Einfluss hin.

Wie schlimm kann es in diesem Jahr werden und was bedeutet dies für die weitere Entwicklung des Arktiseises?

Solche Kurzfristvorhersagen sind sehr schwer. Wenn wir den jetzigen Trend verlängern, kann es ein Stück weiter unter den Wert von 2007 gehen. Ich wage da keine Prognose. Es kann sein, dass es 3,5 Millionen Quadratkilometer sein werden oder dass es bei vier Millionen bleibt. Das hängt von der Entwicklung in den nächsten zwei Wochen ab. Was bedeutet das langfristig? Man sieht den Effekt des langfristigen Verlustes von Eisvolumen. Diesen Trend kann man nicht schnell umdrehen. Wir erwarten also weiter niedrige Eisausdehnung. Mit der Warmphase der natürlichen Variabilität wird es noch einige Jahre weitergehen, danach kann es zu einer leichten Erholung kommen, aber nicht dramatisch.

Was muss geschehen, dass es nach dem Abklingen der Warmphase der natürlichen Variabilität zumindest leicht nach oben geht und der Trend durch Klimaerwärmung aufgrund der Treibhausgase nicht weiter nach unten zeigt?

Wenn die Atlantische Multidekadische Variabilität sehr schnell in die kalte Phase übergeht, ist der Temperaturanstieg durch die Treibhausgase noch nicht viel weiter fortgeschritten. Das würde dann bedeuten, dass Eisvolumen und Eisausdehnung zeitweilig wieder zunehmen würden, im Vergleich zu den letzten extremen Jahren. Ich erwarte aber nicht, dass Eisverhältnisse wie vor 20 Jahren wieder eintreten, das heißt der Trend würde schwächer werden aber sich nicht umkehren.

Rechnen Sie in naher Zukunft mit einer im Sommer zumindest kurzfristig eisfreien Arktis?

Ich will das nicht völlig ausschließen. Schon jetzt sind viele Seewege frei. Es ist praktisch kein Eis mehr südlich von 80 Grad Nord vorhanden. Auf der europäischen Seite geht es noch weiter nach Norden. Für viele praktische Zwecke, etwa die Schifffahrt, ist das Eis schon jetzt großräumig verschwunden.

© Gerd Braune
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Dieser Beitrag erschien redaktionell bearbeitet in der Stuttgarter Zeitung am 29. August 2012