Stetig nagt der Arktische Ozean an der Küste

Tuktoyaktuk/Ottawa, 18. April 2011. Mit Wucht schlagen die Wellen des Arktischen Ozeans gegen die Küste. Meter um Meter verschlingt das Eismeer das Land. An der Küstenlinie in arktischen Dauerfrostgebieten sind deutliche, durch Klimawandel geförderte Veränderungen zu beobachten. Durchschnittlich geht an der Eismeerküste pro Jahr ein halber Meter Land verloren, zeigen jetzt zwei internationale Studien. Küstennahe arktische Ökosysteme verändern sich, Inuit-Gemeinden sind bedroht.
Klimawandel fördert Erosion am Eismeer – Bedrohung der Inuit-Gemeinden

Wenn Mervin Gruben durch seine Gemeinde geht, hat er fast ständig irgendwo den Ozean im Blick. Gruben ist Bürgermeister der 900 Einwohner zählenden Siedlung Tuktoyaktuk in Kanadas Nordwest-Territorien. Ein Teil der Gemeinde liegt auf einer Landzunge, die in den Arktischen Ozean hineinragt. „Erosion und das Auftauen des Permafrostbodens sind ein andauerndes Problem“, berichtet er. „Um die Erosion zu kontrollieren, haben wir Betonklötze nach Tuktoyaktuk bringen lassen, die als Wellenbrecher dienen und die Küste befestigen.“ Einige Häuser mussten von Tuktoyaktuk Point, der nördlichsten Spitze, bereits weggebracht und etwas weiter von der Küstenlinie entfernt aufgebaut werden

So wie Tuktoyaktuk sind auch andere Siedlungen in der Arktis durch Erosion gefährdet. Das drastischste Beispiel ist die Alaska-Gemeinde Shishmaref nördlich der Bering-Straße, wo vor wenigen Jahren ein Haus abstürzte, als der Boden unter ihm weggespült wurde. Ein Teil der Gemeinde wurde bereits umgesiedelt.

Rund 400.000 Kilometer Küstenlinie in der Arktis

Ein Konsortium von mehr als 30 Wissenschaftlern aus zehn Ländern hat jetzt eine umfassende Bestandsaufnahme des Zustand der arktischen Küsten vorgelegt. „Als die systematische Erfassung im Jahr 2000 begann, lagen nähere Informationen gerade einmal für 0,5 Prozent der arktischen Küsten in Dauerfrostgebieten vor“, berichtet Hugues Lantuit, Geologe an der Forschungsstelle Potsdam des Alfred-Wegener-Instituts (AWI). Jetzt gibt es Daten von 100.000 Kilometer und damit von einem Viertel aller arktischen Küsten. Weltweit haben die Küsten aller Meere eine Länge von etwa 1,2 Millionen Kilometer, davon etwa ein Drittel in der Arktis.

„Dies ist der erste Bericht, der sich auf die Arktisküsten konzentriert“, sagt Volker Rachold, Exekutivsekretär des Internationalen Arktischen Wissenschaftsrats (IASC) in Potsdam. Die Studie „State of the Arctic Coast 2010“ wurde von IASC, dem am Institut für Küstenforschung in Geesthacht angesiedelten Projekt „Land-Ocean Interactions in the Coastal Zone (LOISZ)“, der Internationalen Permafrost-Gesellschaft und einer Arbeitsgruppe des Arktischen Rates koordiniert. Das AWI war eines der beteiligten Institute. Leitender Herausgeber der Studie ist der Kanadier Donald Forbes vom Bedford Institute of Oceanography.

Ein halber Meter Verlust pro Jahr

Im Durchschnitt zieht sich die Küstenlinie um einen halben Meter pro Jahr zurück. Aber dieser Wert wird stellenweise dramatisch übertroffen. Besonders stark sind die Veränderungen in der Laptev- und Ostsibirischen See ans Russlands Küste und in der Beaufortsee vor Alaska und Kanada. Dort wurden Erosionsraten von teils mehr als acht Meter pro Jahr festgestellt. An einigen Stellen wurden zwischen zehn und 30 Meter Land weggewaschen. Betroffen sind vor allem Gemeinden, die direkt am Arktischen Ozean liegen. Siedlungen auf den Inseln in Kanadas Arktis spüren die Erosion noch nicht so stark, weil sie nicht am offenen Meer, sondern an den schmaleren Wasserwegen liegen, die auch länger im Sommer eisbedeckt sind.

Erosion des Bodens, Überflutung, stärkerer Wellengang und schwindendes und nicht zuverlässiges Meereis beeinflussen das Leben in vielen Küstengemeinden. Die Menschen können das Eis nicht mehr als Reiserouten nehmen. Tiere wie Karibus, von denen die Subsistenzwirtschaft der Ureinwohner abhängt, ändern ihre Wanderrouten. Die Erosion zerstört archäologische und kulturelle Stätten wie Friedhöfe und bedroht die Infrastruktur, wenn Straßen und Strommaste ins Meer stürzen oder auf tauendem Boden ihren Halt verlieren.

Offenes Wasser, höhere Wellen

Die Arktisküsten werden in den nächsten Jahrzehnten stark durch Veränderungen aufgrund der Klimaerwärmung beinflusst, stellt die Studie fest. Der Anstieg der Lufttemperatur und der Schwund von Meereis im Sommer, der seit 2007 dreimal Rekordausmaße erreichte, machen sich bemerkbar. „Durch den Rückgang des See-Eises haben wir größere offene Wasserflächen und einen größeren Abstand des Eises von der Küste. Dadurch können sich höhere Wellen bilden“, beschreibt  Rachold die Entwicklung. Die Meereisflächen hatten früher die Küste vor der erodierenden Kraft der Wellen geschützt. Nun treffen sie mit größerer Energie auf die Küste. Weitere Faktoren kommen hinzu: Die Wassertemperatur ist  gestiegen, „wärmeres Wasser nagt also an der gefrorenen Küste“, sagt Rachold. Der dritte Faktor ist der Anstieg der Lufttemperatur, der dem Permafrostboden zusetzt. Zwei Drittel der arktischen Küste bestehen nicht aus Fels, sondern aus gefrorenem „Weichsubstrat“, vor allem Sand, Erde und Kies. Da der Permafrostboden auftaut und Stabilität verliert, sind diese Küsten besonders stark von Erosion betroffen.

„An den Küsten vollzieht sich der Wandel am schnellsten. Und das ist der Ort, wo die Menschen der Arktis wohnen“, sagt Hartwig Kremer, Leiter des Instituts für Küstenforschung. Hier lebt ein großer Teil der vier Millionen Menschen der Nordpolregion. Fast alle Gemeinden der Ureinwohner liegen an der Küste, ob in Grönland, in Labrador, Quebec und Nunavut in Kanada, in Alaska und in Sibirien. An den Küsten vollzieht sich auch der soziale und wirtschaftliche Wandel. Von hier aus wird die Erschließung und Förderung von Rohstoffen vorangetrieben.

Hinweise auf Beschleunigung der Erosionsrate

Die Wissenschaftler rechnen mit schnellen Veränderungen der über Jahrtausende stabilen Situation an den Küsten. „Es gibt in einigen Gebieten Belege für eine Beschleunigung der Erosionsrate an der Küste“, heißt es in der Studie. Aber weitere Forschungen sind notwendig, um den Zusammenhang zwischen Erosionsraten und Klimaveränderungen oder die Auswirkungen der Erosion auf den Kohlenstoffkreislauf zu erfassen.

In Tuktoyaktuk liegt nur wenige Meter vom Wasser entfernt der kleine Friedhof. Wie lange dort noch Verstorbene beigesetzt werden können, ist fraglich. An die Umbettung der Verstorbenen wird nicht gedacht. „Das ist gegen die Kultur der Inuit. Das können wir nicht machen“, sagt Bürgermeister Gruben. Er hofft, die Erosion durch die Betonklötze zumindest verlangsamt zu haben, muss sich aber darauf einstellen, dass das Meer weiter vordringt. „Irgendwann“, sagt Mervin Gruben, „werden wir einen neuen Friedhof anlegen müssen.“

Gerd Braune

Quelle: State of the Arctic Coast 2010, www.arcticcoasts.org

© Gerd Braune
Die auszugsweise Übernahme dieses Textes ist nur mit dem Quellenhinweis „Gerd Braune/www.arctic-report.net“ gestattet. Die vollständige oder weitgehende Verwendung zur Publikation bedarf meiner vorherigen Zustimmung

Dieser Artikel erschien redaktionell bearbeitet in
Rheinpfalz (18. April 2011)
Luxemburger Wort (19. April 2011)
Weser-Kurier (19. April 2011)
Badischen Zeitung (19. April 2011)

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