Klimaforscher sagen
rapides Schmelzen des
antarktischen Eisschildes vorher

Ottawa, 9. Mai 2012. Klimawissenschaftler sind beunruhigt: Entgegen bisherigen Annahmen wird nach neuen Modellberechnungen das gewaltige Filchner-Ronne-Schelfeis des Weddellmeeres der Antarktis noch in diesem Jahrhundert rapide zu schmelzen beginnen. Folge könnte sein, dass es daraufhin als Barriere für das Inlandeis des antarktischen Kontinents wegfällt. Große Eismengen könnten dadurch in den Ozean rutschen und den Meeresspiegel einige Millimeter pro Jahr anheben.
Wärmeres Wasser lässt noch in diesem Jahrhundert Filchner-Ronne-Schelfeis brüchiger werden

Die Klimamodelle zeigten, „dass die warmen Wassermassen des Weddellmeeres in den kommenden Jahrzehnten dem Filchner-Ronne-Schelfeis mächtig zusetzen werden“, sagt Hartmut Hellmer, Ozeanograf am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven und Erstautor der Studie, die im Magazin Nature veröffentlicht wird. Die Berechnungen dürften nach Ansicht der beteiligten Forscher die Fachwelt überraschen. Weitverbreitete Annahme sei bisher gewesen, dass das Schelfeis im Weddellmeer von den unmittelbaren Einflüssen der Erderwärmung verschont bliebe und diese vor allem im Amundsenmeer der Westantarktis zu spüren seien. „Das Weddellmeer hatte niemand so richtig auf der Rechnung, weil alle glaubten, sein Wasser sei im Gegensatz zum Amundsenmeer kalt genug, um dem Schelfeis nichts anhaben zu können“, sagt Hellmer.

Schelfeis sind Eisflächen, die auf dem Meer schwimmen und mit dem Festland und Gletschern verbunden sind. Die beiden größten Schelfeise des Südpolargebiets sind mit jeweils mehr als 400.000 Quadratkilometern Fläche das Filchner-Ronne- und das Ross-Schelfeis. Filchner-Ronne-Schelfeis und Weddellmeer liegen im atlantischen Küstensektor zwischen Antarktischer Halbinsel und ostantarktischer Landmasse.

"Hydrographische Front" im Weddellmeer bricht auf

Die Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts und des britischen Met Office Hadley Centre haben errechnet, dass es durch den Anstieg der Lufttemperatur über dem Weddellmeer in den nächsten sechs Jahrzehnten zu einer Kettenreaktion kommen kann, an deren Ende vermutlich große Inlandeismassen in den südlichen Ozean abrutschen werden. Aufgrund der Entwicklung der Kohlendioxidgehalte der Luft gehen die Modelle davon aus, dass die Lufttemperatur dort in 100 Jahren um vier Grad ansteigen wird. „Höhere Temperaturen führen zu geringerer Meereisbildung, das Eis wird dünner und mobiler und die Kraft des Windes wird sich stärker auf das Wasser übertragen“, erläutert Ko-Autor Ralph Timmermann. Dies führt zu einer Änderung der Strömung in Richtung Kontinent. Die Dichte des kalten Wassers, das den Zufluss wärmeren Wassers abblockt, nimmt ab. „Die ,hydrographische Front´ im Weddellmeer, die bisher verhindert, dass wärmeres Wasser unter das Schelfeis gelangt, bricht auf“, erklärt Timmermann.

Damit können wärmere Strömungen unter das Eis gelangen. Das Schelfeis wird durch heftigere Meeresbewegungen an seinen Rändern und gleichzeitig durch wärmeres Wasser unter seiner Eisfläche angegriffen. Die Wissenschaftler haben errechnet, dass die Wassertemperatur unter dem Schelfeis bis 2095 um zwei Grad steigen könnte. Liegt sie heute bei minus 1,8 Grad, können es dann etwa Null Grad sein. Wegen seines Salzgehalts friert das Meerwasser bei minus 1,9 Grad: „Wasser von Null Grad ist relativ warm und hat ein höheres Potenzial zu schmelzen“, erläutern die AWI-Forscher.

Wissenschaftler sehen mögliche "Megaschmelze"

Errechnet wurde, dass die „Schmelzrate“ des Schelfeises von jetzt durchschnittlich 0,2 Meter pro Jahr auf vier Meter wachsen könnte. Es gibt allerdings Zonen, in denen schon heute das Schelfeis um fünf Meter pro Jahr schmilzt. Um die nächste Jahrhundertwende könnten es dort bis zu 50 Meter pro Jahr sein.

Die Wissenschaftler sprechen von einer möglichen „Megaschmelze“ des Schelfeises, die beträchtliche Folgen für das dahinter gelagerte Inlandeis haben könnte. „Schelfeise sind für das nachgelagerte Inlandeis wie ein Korken in der Flasche. Sie bremsen die Eisströme, weil sie in den Buchten anecken und zum Beispiel auf Inseln liegen. Schmelzen die Schelfeise von unten, werden sie so dünn, dass die bremsenden Flächen immer geringer werden und sich das dahinterliegende Eis in Bewegung setzt“, erläutert Hellmer. Wissenschaftler nennen diese Brems- oder Stützwirkung des Schelfeises „Buttress-Effekt“.

Auswirkung auf Meeresspiegel schwer abzuschätzen

Was diese Entwicklung für den Meeresspiegel bedeutet, ist schwer abzuschätzen. Theoretisch könnte der Meeresspiegel um 4,4 Millimeter pro Jahr steigen, falls der Verlust an Schelfeis komplett durch nachströmendes Inlandeis kompensiert würde. Aber dies ist nicht sicher und vollzieht sich möglicherweise auch nicht in einem gleichmäßigen, linearen Prozess. „Wir können das noch nicht quantifizieren“, sagt Eismodellierer Jürgen Determann vom AWI im Gespräch mit dieser Zeitung.. Schwimmendes Schelfeis, das sich auflöst, lässt den Wasserspiegel nicht ansteigen. Das passiert erst, wenn vom Festland Eis in den Ozean nachrutscht. Würde bei einer Schmelzrate von vier Metern pro Jahr die geschmolzene Eismenge komplett durch nachfolgendes Eis ersetzt, würden jährlich 1600 Gigatonnen Eis ins Meer fließen. Eine Gigatonne sind eine Milliarde Tonnen. Das wäre ein Würfel mit einer Kantenlänge von einem Kilometer.

Wie das AWI mitteilt, gehen neue Schätzungen aufgrund von Satellitendaten davon aus, dass zwischen 2003 und 2010 der durch Gletscher- und Schelfeisschmelze bedingte Anstieg des Meeresspiegels etwa 1,5 Millimeter pro Jahr betrug. Hinzu kommen etwa 1,7 Millimeter durch die thermische Ausdehnung der Ozeane aufgrund des Temperaturanstiegs des Wassers.

(Titel der Veröffentlichung: Twenty-first-century warming of a large Antarctic ice shelf cavity by a redirected coastal current. Nature 10, May 2012, Vol 485, page 225)

© Gerd Braune
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Dieser Text erschien redaktionell bearbeitet unter anderem in
Kölner Stadtanzeiger
Die Rheinpfalz, Ludwigshafen
Stuttgarter Zeitung (10. Mai 2012)