„Kenntnisse über Arktis und
Antarktis vermitteln und
in Handeln umsetzen“

Montreal, 17. April 2012. Trotz des gewachsenen Interesses an den Polarregionen und der wissenschaftlichen Forschung ist in weiten Teilen der Öffentlichkeit und unter Politikern häufig „das Maß an Verständnis für arktische Themen ziemlich gering“. Es sei Aufgabe der Wissenschaft, die Kenntnisse über Arktis und Antarktis zu vermitteln und in Handeln umzusetzen, meint der kanadische Professor Peter Harrison, der in der kommenden Woche die Wissenschaftskonferenz zur Bilanz des Internationalen Polarjahrs leiten wird.
Gespräch mit Peter Harrison, Präsident der "International Polar Year 2012 Conference" in Montreal

An der fünftägigen Konferenz „From Knowledge to Action“ (Vom Wissen zum Handeln) nehmen rund 2500 Wissenschaftler aus aller Welt teil. Sie gilt als eine der wichtigsten Konferenzen über Polarwissenschaft, Klimawandel und Adaption an Klimawandel, die Themen von Plankton bis Eisbär und Meereis bis Permafrost behandelt. Das Polarjahr 2007/2008 hatte einen Schub in der Polarforschung ausgelöst. Viele Projekte gingen weit über diese Jahre hinaus. „Wir haben im Internationalen Polarjahr viele neue Kenntnisse gewonnen. Jetzt müssen wir uns fragen: Wie kann dieses Wissen von der Politik, von Gemeinden, Organisationen und anderen Entscheidungsträgern umgesetzt werden“, sagt Harrison, der an der Queen´s-Universität in Kingston Geografie lehrt und viele Jahre der kanadischen Regierung als Staatssekretär in verschiedenen Ministerien angehörte.

Mangel an Verständnis der Arktis "verblüffend"

Außerhalb der arktischen Länder herrsche oft eine falsche Vorstellung von der Arktis als „Terra Incognita“, als leerer, unbewohnter und unregulierter Raum. „Der Mangel an Verständnis ist verblüffend“, sagt Harrison im Gespräch mit dieser Zeitung und stützt sich auf seine Erfahrungen besonders in den letzten Jahren. Das beginne mit Unkenntnis über die Unterschiede zwischen Arktis und Antarktis. „Die Antarktis ist ein eisbedeckter Kontinent, auf dem abgesehen von Wissenschaftlern niemand lebt, und der von Meer umgeben ist. Die Arktis aber ist ein Ozean, der eisbedeckt ist, umgeben von souveränen Staaten“, erklärt er. Die Arktis sei nicht „leer“, sondern ein Raum, in dem Menschen leben.

Fundamentale Rolle für die indigenen Völker

„Die Rolle, die die indigenen Völker der Arktis spielen, ist fundamentaler als den meisten bewusst ist.“ Die Arktis habe mit den Verträgen zwischen Regierungen und Ureinwohnern über die Nutzung ihres Landes „eine außergewöhnliche Evolution“ erlebt. In Kanada wurden Territorien wie Nunavut, Nunavik (Quebec), Nunatsiavut (Labrador) und die Inuvialuit-Region (Nordwest-Territorien) geschaffen. „Dies ist kein Vakuum ohne Regierungsstrukturen“, sagt Harrison.

Auch der Arktische Rat der acht Arktisstaaten habe seit seiner Gründung 1996 eine „interessante geopolitische Entwicklung“ durchlaufen. In ihm haben die indigenen Völker den Status „Permanente Teilnehmer“. „Die Inuit sagen: Endlich haben wir einen Sitz in einer internationalen Organisation bekommen, und jetzt will jeder Mitglied werden und unsere Stimme wird verwässert“, zitiert Harrison die weitverbreitete Ansicht der Inuit. „Noch vor zehn Jahren war der Arktisrat eine Organisation, für die sich niemand interessierte.“ Jetzt liegen ihm Anträge unter anderem der Europäischen Union und Chinas auf Zulassung als Beobachter vor.

Der Wandel in der Arktis vollzieht sich mit dem Rückgang der Eisfläche und dem Auftauen des Permafrostbodens schneller als erwartet. „Dies hat Folgen für die Menschen“, die auf Eis, Eisstraßen und Tiere und Pflanzen der Arktis als Lebensgrundlage angewiesen sind, erläutert der Wissenschaftler. Ob bei der Öffnung der Ozeane für Schifffahrt oder der Förderung von Öl, Gas und Bodenschätzen, ob Gesundheitswesen oder Bildung – in all diesen Gebieten sieht er die Wissenschaft beim Erkennen und Lösen von Problemen gefragt.

"Großartige Geschichte" der Zusammenarbeit in der Arktis

Harrison findet es „interessant“, dass in der Öffentlichkeit durch die Berichte in manchen Medien der Eindruck bestehe, die Arktis sei ein Gebiet der Konfrontation. Das Gegenteil ist nach seiner Ansicht der Fall. „Die Arktis ist eines der besten Beispiele für Kooperation.“ Zwar gebe es gelegentlich Säbelrasseln. Aber die arktischen Länder würden immer stärker zusammenarbeiten und in der Ilulissat-Deklaration von 2008 hätten die Küstenstaaten festgelegt, dass überlappende Ansprüche auf das Kontinentalschelf im Rahmen der UN-Seerechtskonvention auf wissenschaftlicher Basis geklärt werden sollen. Norwegen und Russland hätten sich nach jahrzehntelangen Verhandlungen auf die Grenze in der Barents-See geeinigt. „Wäre es in einer Welt der Konflikte nicht eine großartige Geschichte, dass in der Arktis Frieden herrscht?“ fragt Harrison.

Die Beziehungen zwischen Kanada und der Europäischen Union bezeichnet Harrison als „sehr gut“, er sieht aber im EU-Importverbot für Robbenprodukte „eine riesige Irritation“ in der Arktispolitik. Kanada gehört zu den Ländern, die der EU bisher den Beobachterstatus im Arktisrat verweigern, was maßgeblich mit dem EU-Robbenbann zu tun hat. Die EU habe Ausnahmen für Erzeugnisse aus der Robbenjagd der Ureinwohner zugelassen, aber die Inuit sähen, dass die EU mit dem Importverbot für Produkte aus der kommerziellen Jagd den Markt ruiniert habe. Dies bedeute für die Inuit Einkommensverluste. „Es geht nicht um Folklore, um Disneyland an der Nordwestpassage“, es gehe um Einkommen für diese Menschen. „Für Länder wie Kanada ist es sehr schwierig, nicht Rücksicht auf  Bedenken der indigenen Völker zu nehmen, die im Arktisrat mit am Tisch sitzen.“

EU zu sensiblerem Auftreten gegenüber Inuit aufgefordert

Harrison glaubt, dass mit der anstehenden Klärung des Aufnahmeprozesses für Beobachter des Arktischen Rates und deren Rechte die Frage der EU-Beteiligung  gelöst wird. „Die Europäische Union sollte aber sensibler gegenüber der Tatsache sein, dass die indigenen Völker seit sehr langer Zeit in der Arktis leben und dass Entscheidungen der EU ihr Leben beeinflussen.“ Er empfiehlt der EU, „etwas sensibler und weniger kolonial“ gegenüber den Inuit aufzutreten.

© Gerd Braune
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