In der Eisberg-Allee:
Kolosse aus Eis

An Bord der Louis S. St-Laurent, Juli 2008. Nur vage sind die Umrisse am Horizont auszumachen. Neun Seemeilen, rund 16 Kilometer, ist der Eisberg entfernt. Aber mit geübtem Blick erkennt Marc Rothwell, Kapitän des kanadischen Eisbrechers Louis S. St-Laurent, dass es sich um einen gewaltigen Eisberg handelt. „Big iceberg starboard“, gibt er über die Lautsprecheranlage bekannt. Wer seinen Arbeitsplatz im Schiffsinneren verlassen kann, eilt an Deck.
Mit dem Eisbrecher Louis S. St-Laurent durch die Nordwestpassage

Auf Steuerbord kommt der Gigant näher. Nun leuchtet er weiss und blau in der Abendsonne, die hoch über der Baffin Bay zwischen Grönland und Kanadas Baffin-Insel steht. Es ist ein gewaltiger eisiger Bergrücken. Ein freistehender Turm ragt in die Höhe, mit dem Berg nur durch das unter der Wasseroberfläche liegende Eis verbunden. „Mit dem Kerl stößt man besser nicht zusammen“, murmelt Neil Turnbull, dritter Offizier der „Louis“, respektvoll. Selbst die Crew, die schon viele Eisberge sah, ist von dem Koloss beeindruckt, der im Abstand von einer nautischen Meile vorbeitreibt.

Rothwell greift zum Sextanten und nimmt Maß. Fast 50 Meter hoch und rund 250 Meter lang ist der Gigant. 90 Prozent eines Eisbergs liegen unter der Wasseroberfläche. „760 Millionen Kubikfuß“, berechnet der Kapitän grob das Volumen, rund 25 Millionen Kubikmeter. „Das genügt, um eine Stadt wie Berlin rund zwei Monate mit Trinkwasser zu versorgen“, schätzt der Ozeanograph Robie Macdonald vom Institut für Meereskunde, einer Forschungseinrichtung des Ministeriums für Fischerei und Ozeane.

Eine glitzernde Perlenkette am Horizont

Drei Tage zuvor hatte die Louis S. St-Laurent, benannt nach einem früheren Premierminister und mit 112 Meter Länge der größte Eisbrecher der kanadischen Küstenwache, den Heimathafen Halifax verlassen. Der als Forschungsschiff genutzte Eisbrecher ist auf dem Weg zur Beaufort-See, die zum Arktischen Ozean gehört. Bodenuntersuchungen sollen Kanadas Anspruch auf Teile des Meeresbodens untermauern. „Kanada hat bis Ende 2013 Zeit, seinen Anspruch im Rahmen der UN-Seerechtskonvention zu erheben“, erklärt Jacob Verhoef, Wissenschaftler im Bundesministerium für Bodenschätze.

Im vergangenen Jahr hatten die Russen mit dem spektakulären Versenken ihrer Flagge am Nordpol das bis dahin allein von Wissenschaftlern und Rechtsexperten betriebene Abstecken von Hoheitsansprüchen zu einem Politikum gemacht. Mit dem Klimawandel schwindet die Eisfläche im Polarmeer und es könnte für Rohstoffförderung interessant werden. Die Anrainer Kanada, Russland, Dänemark-Grönland, USA und Norwegen wollen den vermutlich ressourcenreichen Meerboden unter sich aufteilen. Es geht nicht nur um den eigentlichen Nordpol: Der gesamte 14 Millionen Quadratkilometer große Ozean steht zur Disposition.

Die „Louis“ hat die Labrador-See durchquert und fährt nun auf der so genannten „Eisberg-Allee“: Die Grönlandströmung führt Eisberge, die von Grönlands Gletschern abbrechen, zunächst Richtung Norden in die Baffin-Bucht, bevor die Labradorströmung sie nach Süden in den Nordatlantik treibt. Wie eine Kette unregelmäßig großer Perlen erscheinen die Eisberge am Horizont – manche klein und flach, andere wie Steilwände mit Zinnen oder Kathedralen mit Türmen. Ob die in diesem Jahr besonders hohe Zahl an Eisbergen ebenfalls ein Beleg für Klimawandel ist, wissen die Forscher noch nicht.

Über den Polarkreis

Auf der Höhe von Cape Dyer auf der Baffin-Insel überquert die „Louis“ den Polarkreis, den 66. Grad nördlicher Breite. Nun ist sie in der Welt des arktischen Sommers mit der immerwährenden Sonne. Der Eisbrecher nimmt Kurs auf den Lancaster-Sound, den Osteingang der legendären Nordwestpassage durch Kanadas arktische Inselwelt. Das Schiff durchkreuzt mehrere große Eisfelder. „Es ist schön, in diesem Jahr in der Baffin Bay Eis zu sehen“, meint Catherine Lacombe, erste Offizierin an Bord.

Das ist kein Widerspruch zu den erschreckenden Nachrichten über den Rückgang der Eisfläche. Nicht nur Temperaturen, sondern auchWind und Meereströmungen bestimmen maßgeblich, wo und in welche Dicke sich Eisfelder bilden. Zudem hat der Arktissommer erst begonnen. Erst Ende August oder Anfang September wird das Minimum an Eis erreicht sein. Die Prognosen sind düster: Das Alfred Wegener-Institut in Bremen schließt nicht aus, dass die Eisfläche in diesem Sommer unter das Rekordminimum des Vorjahres von 4,3 Millionen Quadratkilometer fallen könnte. In den 80-er Jahren umfasste das Sommereis etwa sieben Millionen Quadratkilometer.

Ein rotes Schiff in der weißen Eiswüste

Der rote Rumpf der „Louis“ leuchtet in der weißen Eiswüste. Es dröhnt, wenn sie auf eine große Scholle trifft, sie bebt und schaukelt. Im Inneren des Schiffs klingt es wie ein Donnerschlag. „Gebrochen werden die Eisschollen nicht durch die Wucht des Aufpralls, sondern das Gewicht des Schiffs“, erläutert Chef-Offizier Stephane Legault. Der Bug ist so geformt, dass sich der Eisbrecher auf das Eis schiebt und es zerdrückt. Brechen die Eisplatten, bilden sich tiefe Schluchten, in die das eisige Wasser strömt. Manche Bruchlinien sind glatt und gerade, als wären sie mit Lineal oder Zirkel gezogen.

Bei der Fahrt durch Eisfelder versucht der Steuermann, großen Eisplatten auszuweichen. Das ermöglicht eine schnellere Fahrt und spart Treibstoff. Selbst ein Eisbrecher zerteilt nicht jeden Eisbrocken im ersten Anlauf. Steckt er fest, muss der Rückwärtsgang eingelegt und erneut Anlauf genommen werden. Hinter sich lässt die „Louis“ eine Fahrrinne, die sich aber schnell wieder schließt. Wie riesige Puzzleteile fügen sich die Eisplatten zusammen und bilden wieder eine geschlossene Eisfläche.

Die Suche nach dem Wasserweg durch die Arktis

Auf der Kommandobrücke bespricht Kapitän Rothwell mit seinen Mitarbeitern den Kurs des Schiffes. „Eis-Offizierin“ Erin Clark legt eine „Ice Chart“ vor, die angibt, wo und in welcher Menge Eis zu erwarten ist. Im Lancaster-Sound ist mit großen Eisfeldern zu rechnen, teilweise als „Festeis“, das von Küste zu Küste reicht, berichtet Erin Clark. Aber die Satellitenaufnahmen trügen. Zwar sind große Teile der Nordwestpassage noch eisbedeckt sind, aber das Eis ist bereits weich. Binnen weniger Wochen wird die Nordwestpassage vermutlich nahezu völlig eisfrei sein.

Jahrhundertelang hatten Entdecker vergeblich den Wasserweg zwischen den arktischen Inseln gesucht, immer wieder blieben sie im Eis stecken. In einer Katastrophe endete Mitte des 19. Jahrhunderts die Expedition des Briten Sir John Franklin. Zwischen 1903 und 1906 gelang Roald Amundsen die erste Durchfahrt der Nordwestpassage. Er musste zweimal überwintern. Dies ist Vergangenheit. Im vergangenen Jahr war die Nordwestpassage erstmals weitgehend eisfrei. Das weckt Begehrlichkeiten der Schifffahrtindustrie. „Die Nordwestpassage bedeutet bei Entfernungen und Treibstoffverbrauch eine erhebliche Einsparung“, sagt Rothwell. 8000 Kilometer kürzer wäre der Weg von Asien nach Europa, falls er durch Nord-Kanadas Inselwelt statt durch den Panamakanal führen würde.

Kapitän Rothwell hat die Veränderungen in der Arktis selbst erlebt. Mitte der 80-er Jahre war er mehrmals hier. „Das Durchkommen war sehr schwer. Der Lancaster-Sound war immer voll mit schwerem, hartem Eis. Man sah nicht viel offenes Wasser“, erinnert er sich. Es kam sogar vor, dass die Eisbrecher umkehren mussten, weil sie das Eis nicht durchdringen konnten. Vor vier Jahren kam er erstmals wieder in den hohen Norden. „Ich konnte zuerst nicht glauben, wie sich das hier verändert hat. Wir müssen immer weniger Eis brechen.“ Chefingenieur Mark Cusack empfindet ähnlich. „2007 fuhren wir durch die Nordwestpassage und mussten überhaupt kein Eis brechen. In den 90-er Jahren war es so stark, dass wir für 100 Seemeilen einmal zwei Wochen brauchten.“

Streit um Souveränität

Die Veränderungen in der Arktis haben akute Folgen für Kanada, das seine Souveränität über die arktischen Gewässer bedroht sieht. Kanada beansprucht den Wasserweg als internes Gewässer. Andere, vor allem die USA, bestreiten dies. Eine eisfreie Nordwestpassage sei eine internationale Schifffahrtsstraße, behaupten sie. Kanada könnte dann den Zugang nicht kontrollieren. „Wir haben strikte Vorschriften zum Schutz der Gewässer nördlich des 60. Breitengrades“, sagt Kapitän Rothwell. Sollte die Passage internationales Gewässer sein, hätte Kanada keine Macht, das Ablassen von Schmutzwasser oder die Stärke der Schiffe, die das Archipel durchqueren wollen, zu regeln. Nicht nur das. „Es ist noch viel kartografische Arbeit notwendig“, spricht Rothwell ein weiteres wichtiges Thema an. Der Schifffahrtsweg ist noch nicht vollständig kartografiert. Es drohen Untiefen und Havarien. Ein Ölunglück im sensiblen Ökosystem der Nordpolregion, weitab von Marinestützpunkten, hätte katastrophale Folgen.

Das ist nicht der einzige Konfliktpunkt im Polarmeer. In der Beaufort-See können sich die USA und Kanada nicht über den Grenzverlauf in der 200-Seemeilen-Zone einigen. Beide Seiten reklamieren die Hoheit über ein mehrere Tausend Quadratkilometer großes Gebiet. Anders als beim schlagzeilenträchtigen Streit um das Gebiet direkt am Nordpol, wo das Meer tief und Bodenschätze derzeit kaum zu bergen sind, geht es in der Beaufort-See um knallharte Vorteile. Hier liegen riesige Gas- und Ölvorkommen, die mit heutiger Technologie gefördert werden könnten.

Ein Bootsmann wie König Neptun

Kurz nach Einfahrt in den Lancaster-Sound hält der Eisbrecher an. Die majestätische Kulisse der Bylot-Insel mit ihrer schneebedeckten Bergkette und den Gletschern interessiert die Wissenschaftler nicht. Sie entnehmen Sediment- und Wasserproben.

Die Fahrt der St-Laurent ist Teil des Projekts „Kanadas Drei Ozeane“ zur Erforschung von Pazifik, Atlantik und Eismeer und Kanadas Beitrag zum Internationalen Polarjahr 2007/2008, ein internationales Programm zur Erforschung der Polarregionen. Die Federführung haben das Fischereiministerium und das Institut für Meereskunde in Sidney in British Columbia. Bootsman Robert Taylor gibt Anweisungen, das Gerät, das die Sedimente auf dem Meeresboden aufnehmen soll, ins Wasser zu lassen. Mit seinem wallenden grauen Bart sieht er aus wie das Abbild von König Neptun.

Wissen, was sich in den Ozeanen abspielt

„Wir wollen wissen, was sich in den Ozeanen abspielt“, erklärt die leitende Wissenschaftlerin Jane Eert. Sedimente geben Informationen über Meeresströmungen. Wassertemperatur und Salzgehalt werden ermittelt, um die Dichte des Wassers zu bestimmen, was wiederum Einfluss auf die Wasserschichten und ihre Produktivität hat, auf Nährstoffe wie Plankton, Phyto- und Zooplankton, die eine wichtige Rolle in der Nahrungskette bis hoch zu Walen und Eisbären spielen. „Kenntnisse über Meeresströmungen sind wichtig um Klimawandel zu verstehen.“

Der arktische Ozean ist für das Klima auf der nördlichen Halbkugel entscheidend. Er beeinflusst globale Meeresströmungen wie den Golfstrom, der für das Klima in Europa so wichtig ist. „Die Eisdecke isoliert das Wasser vom Wind. Verschwindet die Eisdecke, wird der Ozean stärker bewegt und wir verändern Wasser und Sedimente“, erläutert Klimaforscher Robie Macdonald.

Die Inuit-Gemeinde an der Nordwestpassage

Die „Louis“ erreicht Resolute, die 250 Einwohner zählende Inuit-Gemeinde an der Nordwestpassage. Jacob Verhoef erwartet Crew und Wissenschaftler. Der Holländer in Diensten der kanadischen Regierung leitet das Projekt, mit dem Kanada seine Hoheitsansprüche in der Arktis begründen will. Bis zum Jahr 2013 hat Kanada Zeit, seine Ansprüche zu belegen. Die Seerechtskonvention gibt jedem Küstenstaat als Minimum Hoheit über eine 200-Meilen-Zone zur exklusiven wirtschaftlichen Nutzung des Wassers und des Bodens. Komplizierte Formeln aus einer Kombination von Meerestiefe und Bodenbeschaffenheit können diese viele hundert Kilometer ausweiten. „Der Staat muss aber beweisen, dass der Meeresboden eine natürliche Verlängerung seines Festlands ist“, erklärt Verhoef.

Wegen des Lomonossow-Rückens, der sich im arktischen Ozean von Sibirien bis zur Nordspitze Grönlands und der kanadischen Ellesmere-Insel erstreckt, könnten sowohl Russland als auch Kanada und Dänemark Anspruch auf den Meeresboden am Nordpol erheben. Bereits vor zwei Jahren haben Kanada und Dänemark in einer gemeinsamen Expedition Daten im Polarmeer gesammelt.

Die Franklin-Tragödie vor 160 Jahren

„Unsere bisherigen Daten sehen erfolgsversprechend aus“, sagt Verhoef vorsichtig. Angesichts der komplexen Verfahren ist sein Zögern verständlich. „Um die äußersten Grenzen unseres Kontinentalschelfs zu bestimmen, setzen wir seismische und bathymetrische Methoden ein“, erläutert er. Schall- oder Luftdruckwellen werden zum Meeresboden gesendet, von dort reflektiert und von sensiblen Mikrophonen wieder aufgefangen. Daraus können Wissenschaftler ableiten, ob dieser Teil des Meeresbodens die Fortsetzung des Festlandssockels ist.

Der Hubschrauber der „Louis“ bringt den Gemeinderat Resolutes und die einflussreichen alten Inuit, die respektvoll „Elders“ bezeichnet werden, zum Eisbrecher. Sie sollen sich über die Forschungsarbeiten in der Arktis, ihrem traditionellen Lebensraum, informieren. Das Eis ist bereits zu weich, um mit Schneemobilen zur „Louis“ zu fahren.

Zwölf Stunden ankert der Eisbrecher vor Resolute, dann setzt er seine Fahrt durch die Nordwestpassage fort. Das Eis wird dichter, weil es sich in den engen Kanälen zwischen den Insel staut. Diese Inselwelt war vor 160 Jahren Schauplatz der Franklin-Tragödie. Auf Beechey Island, einem kleinen Eiland, waren die Gräber von drei Mitgliedern der Expedition entdeckt worden. An der Küste der King William-Insel hatte die Besatzung im April 1848 ihre vom Eis eingeschlossenen Schiffe Erebus und Terror aufgegeben und den verzweifelten Versuch gestartet, zu Fuß menschliche Siedlungen weiter im Süden zu erreichen. Sir John Franklin war bereits ein Jahr zuvor gestorben, wie andere vermutlich an Skorbut oder Bleivergiftung, die auf die noch unausgereifte Technik der Herstellung von Lebensmittelkonserven und die Bleiverlötung zurückzuführen war. Keiner der 129 Männer überlebte.

Keine undurchdringbare Eiswüste

Die Nordwestpassage war damals eine undurchdringbare Eiswüste. Heute braucht die Louis S. St-Laurent nur zwei Wochen, um sie auf ihrem Weg ins Polarmeer zu durchfahren. Das Eis zieht sich zurück, der Polarraum öffnet sich.

Gerd Braune

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Videosequenz von der Eisbrecherfahrt in der Baffin Bay.

© Gerd Braune
Die auszugsweise Übernahme dieses Textes ist nur mit dem Quellenhinweis „Gerd Braune/www.arctic-report.net“ gestattet. Die vollständige oder weitgehende Verwendung zur Publikation bedarf meiner vorherigen Zustimmung

Diese Reportage erschien redaktionell bearbeitet in folgenden Zeitungen:
Presse, Wien (27. Juli 2008),
Basler Zeitung (27. Juli 2008),
Berliner Zeitung (27. Juli 2008),
Handelsblatt (31. Juli 2008),
Weser-Kurier (1. August 2008),
Luxemburger Wort (2. August 2008),
Frankfurter Rundschau (8. August 2008),
Kölner Stadtanzeiger (16. August),
Die Rheinpfalz (25. August 2008),
Westfälische Rundschau (9. September 2008),
Stuttgarter Zeitung (6. Oktober 2008)

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