Die Eisbären von Churchill: Warten auf die Eiszeit

Churchill, Oktober 2009. Vom Frühstückstisch kann Andrew Derocher sein Forschungsobjekt sehen. Der Biologe und Eisbärforscher sitzt in der „Tundrabuggy Lodge“ an der Hudson Bay im Norden der kanadischen Provinz Manitoba, vor ihm eine Tasse dampfenden Kaffees. Die Tundra ist von Schnee bedeckt, die weiße Fläche wird nur von braunen Weidenbüschen unterbrochen. Ein mächtiger Eisbär zieht an der Lodge vorbei. Es ist „Dancer“ (Foto), benannt nach seinen tanzenden Bewegungen, wenn er auf den Hinterbeinen steht. Der Bär schaut hoch zu den Menschen, die ihn aus sicherer Distanz beobachten. Dann legt er sich in den Schnee und blinzelt in die Arktissonne.
Wenn das Eis verschwindet, verschwindet der Eisbär – Besuch an der Hudson Bay

Seit 16 Jahren taucht Dancer regelmäßig im November in der Nähe von Churchill an der Hudson Bay auf. Irgendwo in der Tundra hat er hungernd den Sommer verbracht, nun wartet er darauf, dass die Bucht zufriert. Das Eis ist sein Leben. Auf dem Eis der Hudson Bay kann er Ringelrobben erlegen und sich sattfressen. Die vier- bis fünfmonatige Fastenzeit auf dem Land, während der er kaum Nahrung finden konnte, hat dann ein Ende.

Für schwangere Bärinnen ist der Hunger- und Fresszyklus noch anstrengender: Im November, wenn die anderen Bären zur Jagd wieder aufs Eis ziehen, sucht sich die Bärin an Land eine Höhle, in der sie im Dezember meist ein oder zwei „cubs“ zur Welt bringt. Erst im März verläßt die Bärenmutter mit den Kleinen die Höhle und geht jagen – abgemagert nach neun Monaten des Hungerns. Sie muss dann für sich und die Kleinen möglichst viel fangen, bevor im Sommer die Eisschmelze sie wieder an Land zwingt.

Die Fastenzeit der Bären wird länger

Aber der Rückgang der Eisbildung durch den Klimawandel und der länger werdende Sommer bereitet Derocher Sorge: „Wenn das Eis verschwindet, verliert man das Ökosystem. Die ganze Kette von den Algen über Krabben, Fische und Robben bis zu den Eisbären ist bedroht.“ Die Fastenzeit der Bären wird länger und ihr körperlicher Zustand schlechter. Martyn Obbard von Ontarios Ministerium für Naturschätze stimmt zu: „Wenn wir das Eis verlieren, verlieren wir den Eisbär.“

Die Tundrabuggy-Lodge von „Frontiers North´s Tundra Buggy Adventures“ steht am „Polar Bear Point“, direkt an der Küste der Hudson Bay, etwa 30 Kilometer vom Städtchen Churchill entfernt. Wie überdimensionierte Busse sehen die fünf weißen Wagen aus, die 40 Touristen und Wissenschaftler  beherbergen. Nur 800 ständige Einwohner zählt Churchill. Aber im Oktober und November kommen Tausende Touristen in die „Eisbärenhauptstadt der Welt“, um die Tiere in freier Wildbahn zu beobachten. Im Frühsommer treibt die Strömung die Eisschollen mit den Bären bei Churchill an Land. Im Spätherbst lassen der Arktiswind und das Frischwasser des Churchill River das Eis hier am schnellsten frieren. Dann versammeln sich Hunderte Bären an der Küste und warten nur auf eines: auf das Eis der Hudson Bay und den Beginn der Jagdsaison.

Mit Webcam durch das Eisbärenland

Die Wissenschaftler begeben sich in ihren großrädrigen Tundrabuggy. „Buggy One“ heisst das Fahrzeug mit der meterhohen Antenne. Es ist ein über die Tundra rollendes Fernsehstudio. Die Organisation „Polar Bears International“ steht hinter dem einmaligen Bildungsprojekt: Derocher, Obbard und Geoff York vom WWF der USA sitzen vor ihren Computern. Über Webcam sind sie mit dem Zoo in Pittsburgh verbunden, später schaltet sich eine Schule im US-Staat Oregon dazu. Während der weiße Wagen langsam über die Tundra rumpelt und die Forscher über Klimawandel und seine Folgen sprechen, fängt die Kamera Eisbären ein, die den Weg des Buggy kreuzen oder neben dem Trail im Schnee liegen und vor sich hin dösen.

„Wissenschaft ist die Basis unserer Arbeit. Aber wir müssen die Erkenntnisse über Klimawandel zu den Menschen bringen und sie zum Handeln ermutigen. Die Bedrohung durch Klimawandel ist zu ernst, als dass wir noch 50 Jahre abwarten können“, beschreibt York den Sinn ihrer Aufklärungsarbeit. Noch hoffen er und seine Kollegen, dass der Klimagipfel von Kopenhagen im Dezember eine Trendwende beim Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase bringt.

Gefährliche Begegnung für die Bärenjungen

Die Sonne bricht durch den grau bewölkten Himmel. Das diffuse Licht reflektiert auf der schnee- und eisbedeckten Fläche. Eine Bärenmutter mit zwei Jungen schlendert gemächlich über die weite Ebene. Auf der Hudson Bay treiben Eisschollen. Die Mutter verharrt am Wasser, blickt hinaus, dann dreht sie sich um und zieht mit ihren Kindern wieder landeinwärts. Plötzlich bleibt die Bärin stehen. Sie ist nervös. Nur wenige Meter entfernt taucht zwischen Weidenbüschen ein großer männlicher Bär auf. Die Kleinen schmiegen sich eng an ihre Mutter. Eiligen Schrittes führt sie ihre Jungen weg.

Im Nordpolarraum leben 20.000 bis 25.000 Eisbären in 19 räumlich getrennten Populationen, etwa zwei Drittel der Tiere bevölkern Kanadas Arktis. Aufsehen erregte die Studie der US-Behörde US Geological Survey aus dem Jahr 2007: Treffen die Vorhersagen für die Eisschmelze in der Nordpolarregion zu, führt dies bis Mitte dieses Jahrhunderts zum Verlust von zwei Dritteln des jetzigen weltweiten Eisbären-Bestands.

Klimawandel verändert den Lebensraum der Eisbären

Eisbären sind auf Eis angewiesen. Vom Eis aus erlegen sie Robben. Im Winter wird sich auf absehbare Zeit noch Eis bilden. Was droht, ist eine eisfreie Arktis im Sommer und ein verlängerter Sommer ohne Jagdmöglichkeit für die Bären.  „Selbst wenn die Hudson Bay für einige Monate im Winter zufriert, könnte es nicht genügen, dass die Bären ausreichend Energie für den Sommer speichern“, fürchtet Obbard. Im Durchschnitt muss ein Eisbär 43 Ringelrobben fressen, um sich ein dickes Fettpolster für den Sommer und den Herbst zuzulegen.

„Churchills Eisbären sind eine der Populationen, die wir am besten kennen“, sagt Andrew Derocher, der an der Universität von Alberta in Edmonton lehrt. Mit Wollmütze und arktisfestem Overall steht er vor der Kamera, im Hintergrund die Tundra. Eisbärenforschung ist nicht einfach: Anders als von der Hudson Bay gibt es von Populationen in der Hohen Arktis Kanadas oder in Sibirien wenig Daten. Prognosen haben einen hohen Unsicherheitsfaktor. Aber dass Klimawandel den Lebensraum der Eisbären verändert, davon sind die Forscher überzeugt. „Ein Symptom ist nicht genug. Aber alles deutet in eine Richtung“, sagt Derocher, der sich gegen die Versuche einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern wendet, Klimawandel zu leugnen.

Gewichtsverlust und schlechtere körperliche Verfassung

Die Zahl der Bären an der westlichen Hudson Bay geht nach unten. Die Forscher glauben, dass es jetzt nur noch rund 935 Bären sind, während es vor 20 Jahrn etwa 1200 waren. Die Daten zeigen an, dass das Eis im Frühsommer zweieinhalb Wochen früher aufbricht als vor 30 Jahren. Es gibt deutliche Schwankungen von einem Jahr zum anderen, aber der Trend ist nach ihrer Ansicht klar. „Die wichtigste Zeit, in der die Eisbären Robben erlegen können, nämlich das späte Frühjahr und der frühe Sommer, wird verkürzt“, befindet Derocher.

Hunderte Tiere haben die Forscher vermessen und gewogen, über Jahre hinweg beobachtet, wieviele Junge die Weibchen zur Welt bringen. Sie haben festgestellt, dass die Bären an Gewicht verlieren und sich ihre körperliche Verfassung verschlechtert hat. Am größten sei die Veränderung bei schwangeren Weibchen und bei heranwachsenden Bären im Alter von etwa fünf Jahren. „Das Körpergewicht einer schwangeren Bärin lag Mitte der 80-er Jahre bei 350 bis 400 Kilogramm, jetzt sind es eher 275 bis 325 Kilogramm, auch wenn einzelne Tiere natürlich schwerer sein können“, sagt Obbard, der die Eisbären der südlichen Hudson Bay und James Bay studiert.

Weniger Nachwuchs bei Familie Eisbär

Ein Rückgang der Reproduktionsrate wurde bereits in den 90-er Jahren dokumentiert. Bei Familie Eisbär gibt es über die Jahre hinweg weniger Nachwuchs. Erwachsene Bären verlieren im Sommer täglich bis zu 900 Gramm Gewicht. „Wenn ein Weibchen vorher nicht genug Fett gespeichert hat, kann sie nicht erfolgreich ihre Babys austragen oder nicht ausreichend säugen“, erklärt Derocher.

Mutmaßungen, der Eisbär werde sich schon irgendwie den Veränderungen anpassen, registrieren sie mit Kopfschütteln. „Über drei viertel Millionen Jahre hat sich der Braunbär zum Eisbär entwickelt. Was aber jetzt mit dem Klima passiert, vollzieht sich in 50 Jahren“, sagt Derocher - zu schnell für den fleischfressenden Bär, sich wieder in ein weitgehend von Vegetarischem lebendes Tier zu wandeln.

Morgen kommt Dancer wieder

Der Unterricht aus der Tundra ist beendet. „Buggy One“ kehrt zur Tundra-Lodge zurück. Im Licht der untergehenden Sonne zieht ein Bär über die Tundra und wirft einen langen Schatten auf dem Schnee. Schwarze Flecken auf der Schnauze zeigen, dass es Dancer ist. Am nächsten Morgen wird er wieder zurückkehren, Tag für Tag, bis die Hudson Bay zufriert und er zur Jagd hinausziehen kann aufs Eis.

Gerd Braune

© Gerd Braune
Die auszugsweise Übernahme dieses Textes ist nur mit dem Quellenhinweis „Gerd Braune/www.arctic-report.net“ gestattet. Die vollständige oder weitgehende Verwendung zur Publikation bedarf meiner vorherigen Zustimmung

Der Bericht erschien redaktionell bearbeitet in folgenden Zeitungen:
Weser-Kurier (25. November 2009),
Rheinpfalz (30. November 2009),
Basler Zeitung (30. November 2009),
Kölner Stadtanzeiger (3. Dezember 2009),
Die Presse, Wien (5. Dezember 2009),
Luxemburger Wort (7. Dezember 2009),
Berliner Zeitung (10. Dezember 2009),
Westfälische Rundschau (10. Dezember 2009),
Frankfurter Rundschau online (11. Dezember 2009),

  • PDF Datei downloaden