Auf Patrouille in der arktischen Wüste

Resolute/Nunavut, 19. September 2007 - Konzentriert beobachtet Simon Idlout die Wasseroberfläche und die Küste. Nichts entgeht dem erfahrenen, 61-jährigen Inuk, der mit seinem Neffen Solomon im Motorboot die Nordwestpassage bei Resolute in Kanadas Arktis durchkreuzt. Der rote Pulli und die rote Kappe unter dem Parka weisen ihn als Ranger aus. Ein geladenes Gewehr liegt im Boot. „Qilalugak“, ruft er in seiner Sprache Inuktitut und weist zum Horizont, „Belugas“. Zuerst kaum zu erkennen, dann immer deutlicher tauchen die Rücken der weißen Wale auf.
Verwundert registrieren die Inuit, dass ihr Lebensraum plötzlich weltweit Interesse findet

Wäre er auf der Jagd, würde er einige Wale erlegen. Aber jetzt sind die Idlouts auf Streife. In einem zweiten Boot folgt Mark Amarualik. Auch er ist ein Ranger, Mitglied der „First Canadian Ranger Patrol Group“, einer  Reservistentruppe, die dem Verteidigungsministerium untersteht und im Norden rund um ihre Gemeinden patrouilliert. „Wir sind die Augen und Ohren der kanadischen Streitkräfte im Norden“, sagt der 27-jährige Amarualik, während er mit einem Fernglas die Küste absucht. „Wir melden, wenn wir etwas Ungewöhnliches oder Verdächtiges sehen. Flugzeuge, die sonst nicht über unsere Gemeinden fliegen, oder Schiffe, die unangekündigt auftauchen.“ In den vergangenen Jahren sichteten Ranger mehrmals Schiffe oder U-Boote, deren Identität nicht geklärt werden konnte. Mehrfach tauchte der Verdacht auf, es könne sich dabei um russische Schiffe gehandelt haben.

Arktische Eisfläche auf Rekordminimum

Nur vereinzelt passieren die Boote Eisschollen. Noch vor wenigen Jahren war die Bucht selbst im Sommer voll Eis. Nun ist sie eisfrei, so wie erstmals in diesem Jahr die gesamte Nordwestpassage zwischen Atlantik und Pazifik. Die arktische Eisfläche im Sommer ist auf vier Millionen Quadratkilometer geschrumpft, ein Rekordtief. Daran und an der russischen Expedition, die eine Flagge am Nordpol versenkte, hat sich die Debatte um Hoheitsrechte in der Arktis entzündet. Jahrhunderte war der Zugang zur Arktis durch Eis blockiert. Jetzt führen Klimawandel und Abschmelzen des Polareises dazu, dass dieses Gebiet zumindest in den Sommermonaten zugänglich ist.

Amarualik und seine Freunde gehören zu der 20 Mann starken Rangertruppe in Resolute, einer 220 Einwohner zählenden Inuit-Gemeinde auf  Cornwallis Island, 900 Kilometer nördlich des Polarkreises und 1700 Kilometer vom Nordpol entfernt. In den Arktisterritorien Yukon, Nordwest-Territorium und Nunavut, die 40 Prozent von Kanadas Landfläche ausmachen, versehen 1500 Ranger in 56 Patrouillegruppen ihren Dienst. Fast alle sind Inuit oder Indianer. „Die Ranger repräsentieren die kanadischen Streitkräfte und damit die kanadische Regierung“, erklärt Brigadegeneralin Christine Whitecross in Yellowknife, Kommandatin der Streitkräfte im Norden des Landes. „Ihre Kenntnisse, in dieser Umgebung zu überleben, sind von unschätzbarem Wert.“ Auch in den südlichen Provinzen gibt es in  abgelegenen Küstengemeinden Ranger. Kanadaweit sind es 4000. In den kommenden Jahren soll auf 5100 aufgestockt werden.

Arktis ist mehr als der Nordpol

Arktis – damit wird meist ewiges Eis, Schnee und der Nordpol assoziiert. Aber die Arktis ist nicht nur der Nordpol. Sie ist das Gebiet, das zumindest bis zum 66. Breitengrad, dem Polarkreis, oder sogar bis zum 60. Breitengrad reicht. Manchmal wird die Baumgrenze als Kriterium genommen. Auf jeden Fall ragt sie weit ins Festland hinein und ist keineswegs nur ewiges Eis. Hier in Kanada ist die Arktis im kurzen Sommer ein Land wie ein Steinbruch. Gestein und Geröll, von Bachläufen mit Schmelzwasser durchzogen. Keine Bäume und Büsche, allenfalls Flechten und Moose und kleine Blümchen, die sich im Wind bewegen. Die Niederschläge sind teils geringer als in Wüstenregionen des Südens. „Es ist eine trockene Gegend, eine polare Wüste“, sagt der Meteorologe Wayne Davidson in Resolute.

Erstaunt registrieren die Inuit das plötzliche Interesse an ihrem Lebensraum. Verwundert, enttäuscht oder gar erbost sind sie, dass Premierminister Stephen Harper von Militärpräsenz, wirtschaftlicher Nutzung und Kanadas Souveränität spricht, aber die Menschen, die hier leben, meist nur am Rande erwähnt. Das militärische Trainingszentrum in Resolute soll ausgebaut und 400 Kilometer weiter östlich in Nanisivik soll die Hafenanlage einer stillgelegten Zink-Mine in einen Tiefseehafen für die Marine umgebaut werden. Aber keine der rund 25 Gemeinden Nunavuts hat einen zivilen Hafen, in dem Fracht- oder Kreuzfahrtschiffe angelegen können. Solche Investitionen und den Ausbau ihres Gesundheits- und Bildungswesens hatten sie sich neben dem militärischen Engagement erhofft. Die Arktis werde „seit Jahrtausenden“ von Inuit bewohnt, betont Mary Simon, Präsidentin der Organisation Inuit Tapiriit Kanatami.

Für die Inuit ist klar, es ist ihr Land

Die Souveränitätsdebatte beobachten die Inuit distanziert. Für sie ist klar, dass es ihr Land ist. Tatsächlich ist die Hoheit über Festland und Inseln im gesamten  Arktisraum geklärt – mit Ausnahme der kleinen Insel Hans zwischen der kanadischen Ellesmere-Insel und Grönland, um die sich Kanada und Dänemark streiten. Aber weil weite Teile des arktischen Ozeans durch den rapiden Rückgang des Sommereises nun mehrere Monate befahren und genutzt werden können, werden hier nun Grenzen abgesteckt. Die Hoheit  über Wasser und Meeresboden ist zum politischen und wirtschaftlichen Thema geworden, denn in der Arktis werden nicht nur auf Land, sondern auch im Meer immense Bodenschätze vermutet.

Von einem „Konflikt“ will der kanadische Arktisexperte Michael Byers von der Universität von British Columbia dennoch nicht sprechen. Es gehe um rechtliche Dispute über Grenzziehungen in der Mitte des Ozeans, die durch Verhandlungen im Rahmen des Seerechts gelöst würden. „Niemand wird wegen der Arktis in den Krieg ziehen“, sagt er lachend. Denn zuviele Unbekannte prägen die Rechnung, wenn es um die künftige wirtschaftliche Nutzung geht. „Wir stehen bei unserem Wissen, was wir in der Arktis finden können, mit Ausnahme von Öl und Gas auf Land und im küstennahen Bereich, immer noch am Anfang“, sagt Jeff Doebrich, Geologe der US-Fachbehörde US Geological Survey (USGS). „Und wir wissen wenig oder garnichts über Mineralien auf dem Meeresboden.“

Systematische Untersuchung der geologischen Regionen

Die USGS kam in einer Bewertung der weltweiten Öl- und Gasvorräte im Jahr 2000 zu dem Ergebnis, „dass 23,9 Prozent der geschätzten nicht entdeckten Ölreserven und 27,6 Prozent der nicht entdeckten Gasressourcen in den geologischen Provinzen der Arktis existieren“, wie eine Mitarbeiterin erläutert. Da diese Studie nicht komplett war, werden nun alle geologischen Regionen der Arktis systematisch untersucht. Die Experten des Canadian Geological Survey wissen, dass sich der Sedimentgürtel des Westens, in dem Kanadas Erdöl und Ölsand zu finden ist, in die Arktis erstreckt und Ölförderung nicht nur im MacKenzie-Delta und an der Küste Alaskas, sondern auch im Fox-Bassin in der Arktis möglich sein könnte. Zink-, Nickel- und Eisenerzvorkommen sind bereits bekannt oder werden in den arktischen Felsen vermutet. „Und wir haben den Diamanten-Korridor bis hoch in den Norden“, meint der kanadische Geologe Simon Hanmer.

Dennoch können die Experten nicht richtig nachvollziehen, worauf die Erwartungshaltung basiert, man könne am Meeresboden unermessliche Bodenschätze abbauen. „Öl und Gas stehen unter Druck. Man muss sie nur anbohren und sie kommen hoch. Mit den Metallen ist das anders. Man muss sie nach oben fördern. Die Logistik hierfür wäre immens“, sagt Hanmer.

Flaggenversenken als „PR-Aktion“?

Aber selbst wenn es ferne Zukunftsmusik oder gar ein Hirngespinst sein mag: Das Interesse am Meeresboden treibt die Debatte um Hoheitsrechte im arktischen Ozean. Nach dem Seerechtsübereinkommen der UN müssen die Anrainerstaaten jetzt ihre Ansprüche erheben und begründen. Küstenstaaten haben die territoriale Hoheit über die Zwölf-Meilen-Zone und können eine 200 Seemeilen-Zone als „ausschließliche Wirtschaftszone“ reklamieren, in der sie Ressourcen im Wasser und im Meeresboden nutzen können. Auch darüber hinaus können sie den Meeresboden für sich beanspruchen – wenn sie wissenschaftlich nachweisen können, dass er die Fortsetzung ihres Kontinentalsockels ist.

Russen, Dänen und Kanadier wollen zeigen, dass der Lomonossow-Rücken zu ihrer Landmasse gehört. Das Unterwassergebirge erstreckt sich von Sibirien seitlich des Nordpols Richtung Kanada und Alaska, oder umgekehrt. Das Versenken der russischen Fahne am Nordpol nennt Rechtsexperte Michael Byers „reine PR-Aktion“. Und überdies sei die Mitte des arktischen Ozeans „der letzte Ort“, an dem man Öl fördern würde.

Der legendäre Seeweg

Mehr als Tausend Kilometer weiter im Süden aber stellt sich die Frage der  Souveränität dringender. Der legendäre Seeweg durch Kanadas Archipel, den Forscher Jahrhunderte vergeblich suchten, öffnet sich durch den rapiden Rückgang des Polareises im Sommer. Die Nordwestpassage verkürzt den Seeweg zwischen Europa und Asien, der derzeit durch den Panama-Kanal führt, von 23.000 auf 15.000 Kilometer verkürzen. Der Meteorologe Wayne Davidson lebt seit 22 Jahren in Resolute. Heute sei es „merklich wärmer“ als damals meint er. Für Menschen aus gemäßigten Zonen ist dies relativ. Aber wenn Davidson von Kälte spricht, meint er lange Phasen mit minus 44 bis minus 50 Grad. Jetzt gebe es Wochen mit minus 20 bis minus 35, erklärt er.  Westlich von Resolute blockierte Eis bis vor wenigen Jahren sogar im Sommer die Schiffahrt. „Diese Barriere ist jetzt verschwunden. Deshalb können wir heute sagen: Die Nordwestpassage ist frei“, sagt Davidson.

Kanada behauptet, die Nordwestpassage sei ein internes Gewässer. Kanada zog eine gerade Linie an der Ost- und der Westseite des Archipels und erklärte das Meer zwischen den Inseln zu einem internen Gewässer, dessen Zugang es vollständig kontrollieren kann. Ein weiteres Argument war, dass die Passage unbefahrbar und das Eis eine Brücke zwischen den Inseln sei. Dieses Argument schmilzt dahin wie das Eis. Die USA sieht die Nordwestpassage als internationale Schiffahrtsstraße an, deren Zugang Kanada nicht kontrollieren kann. Das hat erhebliche Konsequenzen für die Sicherheit Nordamerikas und die Umwelt. Die Wasserstraßen sind nicht genau kartografiert und ein Tankerunglück im Stile der Exxon Valdez wäre eine Katastrophe für das fragile Ökosystem. Die Arktis könnte auch zum Schauplatz von Menschen-, Drogen- und Waffenschmuggel werden, orakelt Michael Byers, der seit Jahren für die Stärkung der kanadischen Präsenz in dieser Region eintritt.

Überlebenstraining für Kanadas Soldaten

Am Tag nach der Bootsfahrt sind Simon Idlout und Mark Amarualik wieder unterwegs, diesmals mit geländegängigen All-Terrain-Vehicles (ATV) entlang der Küste. Nach einer halben Stunde tauchen in der Steinwüste rote Wohncontainer und Lagerhallen auf: „Crystal City“, das Trainingszentrum der Streitkräfte. Von Januar bis März kommen Soldaten hierher, um unter Anleitung von Inuit Überlebenstraining zu machen. Sie sollen vorbereitet sein, im Ernstfall, etwa der Notlandung eines Passagierflugzeugs oder der Havarie eines Kreuzfahrtschiffes, in der Arktis reagieren zu können. Idlout ist ihr Lehrer. „Ich zeige ihnen, wie man Iglus und Schneehöhlen baut, sich bei minus 40 Grad warmhalten kann und Karibus aufspürt und jagt.“

Der Wind wird stärker. Dringt die Sonne durch die grauen Wolken, glitzert das Wasser der Nordwestpassage. Von der Anhöhe aus ist keine Eisscholle zu sehen. Plötzlich hält Simon Idlout an. „Nanook!“ Ein Eisbär sucht am Strand nach Beute. Idlout entsichert sein Gewehr. „Ich liebe meine Eisbären, aber ich fürchte sie auch“, sagt er. Der Bär hat die Inuit entdeckt, zeigt aber kein Interesse an der Begegnung. Er springt in die eisige Flut und schwimmt davon, während die Inuit ihre Patrouille durch Kanadas Arktis fortsetzen.

Gerd Braune

© Gerd Braune
Die auszugsweise Übernahme dieses Textes ist nur mit dem Quellenhinweis „Gerd Braune/www.arctic-report.net“ gestattet. Die vollständige oder weitgehende Verwendung zur Publikation bedarf meiner vorherigen Zustimmung

Dieser Text erschien redaktionell bearbeitet in folgenden Zeitungen:

Handelsblatt (20. September 2007), Berliner Zeitung (21. September 2007), Luxemburger Wort (27. September 2007), Weser-Kurier (29. September 2007), Die Presse, Wien (28. September 2007), Stuttgarter Zeitung (26. Oktober 2007), Rheinpfalz, Ludwigshafen (26. Oktober 2007)

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