Abi-Ball am Polarkreis

Igloolik/Ottawa, 10. Juni 2009. Als der Ball nach Mitternacht endete, gingen die jungen Inuit hinaus in die Tundra. Die Sonne stand am Horizont. In ihrem Licht glitzerte der Schnee. Schöner konnte dieser Tag nicht enden. Es war der Tag der ersten „Prom“ in Igloolik, einer 2000 Einwohner zählenden Gemeinde in Kanadas Arktis, 300 Kilometer nördlich des Polarkreises, im Land der Mitternachtssonne.
Eine Arktisgemeinde feiert erstmals den Schulabschluss mit einem Tanz in Smoking und Abendkleidern

Die „Prom“ ist für Schüler in den Städten im Süden Kanadas ein besonderes Erlebnis, aber auch eine Selbstverständlichkeit. Die „Promenade“ ist der festliche Ball zum Abschluss der High School, der Abi- oder Matura-Ball, wie es in Deutschland oder Österreich heißt. Aber in Igloolik, das nur mit dem Flugzeug zu erreichen ist, gab es das noch nie. Vielleicht mal eine Tanzveranstaltung, zu der die jungen Inuit in Jeans und T-Shirt gingen, aber kein Ball mit Anzug, Smoking, Hemd und Krawatte oder Abendkleid.

Larissa Geraghty und Kim Hedges, die seit vergangenem Jahr an der Ataguttaaluk High School unterrichten, wollten auch ihren Schülern das Erlebnis gönnen. Aber zu einer „Prom“ gehört nicht nur eine festlich geschmückte Schulturnhalle, sondern auch die entsprechende Kleidung. In Igloolik aber gibt es nur zwei Geschäfte, die von Lebensmitteln über Unterwäsche, Werkzeuge, Parkas, Stiefel und Ersatzteile für Motorschlitten alles verkaufen, was man im Norden braucht. „Aber die Auswahl an Kleidern für eine Prom ist nicht gerade groß“, scherzt Larissa Geraghty. Also schickten sie an Freunde und Verwandte emails und baten um nicht mehr benötigte Festbekleidung aus ihrer eigenen Schulzeit oder von ihren Kindern. Die emails lösten eine Lawine aus: Aus allen Teilen Kanadas kamen Pakete mit „Prom“-Kleidung.

Es war ein Ereignis für die ganze Gemeinde. Die Kleiderspenden reichten  für die Schüler der Abschlussklasse 12, einige weitere Jahrgänge und für Eltern und Freunde. „Es genügte, um mehr als 200 Ballgäste einzukleiden“, berichtet Vincent Pickett, Direktor der 240 Schüler zählenden Schule. „Es war wirklich eine Gala.“ Eine Mutter äußert sich begeistert. „Ich wünschte, ich wäre noch einmal jung“, sagt Delila Idlout.

Die Schule verfolgt auch einen pädagogischen Zweck: Mit der Prom wird der Abschlussjahrgang gefeiert, und dass die ganze Gemeinde daran  teilnimmt, soll für die jungen Menschen Ansporn sein, einen Schulabschluss anzustreben. Denn die Zahl derer, die die Schule ohne Diplom beenden, ist im Norden immer noch sehr hoch. Gerade im beginnenden Sommer, wenn Familien zur Jagd aufs Land ziehen, sinkt die Zahl derer, die zum Unterricht kommen. „Dieses Ereignis soll die Bedeutung der Schulausbildung zeigen“, sagt der Direktor. Es gibt einen weiteren Ansporn: Einnahmen aus dem Ball und Spenden ermöglichten es den Schülern, eine Reise nach Ottawa, Toronto, den Niagara-Fällen und Montreal zu unternehmen.

„Es ist wunderbar“, sagt Beatrice Irngaut, die daran denkt, ein College oder eine Universität zu besuchen. „Es ist der Beginn meines Lebens.“ Ihre 22-jährige Freundin Tasha Tulugarjuk pflichtet bei. „Ich habe ich es geschafft - für eine bessere Zukunft für mich und mein Kind.“ Vor drei Jahren bekam sie ihr erstes Kind und setzte vorübergehend mit der Schule aus. In einigen Jahren wird sie ihrem Kind stolz erzählen können, dass sie zu den ersten gehörte, die in Igloolik den Schulabschluss in Abendkleid und Smoking mit einer „Prom“ feierten.

Gerd Braune

Fotos: CBC

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