Mit unerwarteter Geschwindigkeit verliert Kanada sein Schelfeis

Ottawa, 30. September 2011. Das Schelfeis an Kanadas nördlichster Küste ist in den vergangenen sechs Jahren um nahezu die Hälfte geschwunden. Dieser Sommer führte fast zum völligen Verlust eines Schelfeises an der Küste der Ellesmere-Insel, ein weiteres spaltete sich in zwei kleinere Teile. Was über Jahrtausende die Küste geprägt hat, könnte in wenigen Jahrzehnten völlig verschwunden sein.
Einst bedeckte das Eis weite Strecken der Küste der Ellesmere-Insel

„Unsere Küstenlinie im hohen Norden verändert sich mit unerwarteter Schnelligkeit“, sagt Geografie-Professor Luke Copland von der Universität von Ottawa, der zusammen mit seinem Kollegen Derek Mueller von der ebenfalls in Ottawa ansässigen Carleton-Universität die Veränderungen seit Jahren beobachtet. „Diese einzigartigen und massiven geografischen Erscheinungen, die wir als Teil der Landkarte Kanadas ansehen, verschwinden, und sie werden nicht zurückkommen“, meint Mueller.

Schelfeis ist eine mit dem Festland permanent verbundene auf dem Meer schwimmende Eismasse, die sich in der Arktis und der Antarktis über Jahrtausende durch Gletscher, frierendes Meereis und Schnee gebildet hat. Professor John England von der Universität von Alberta glaubt anhand von Treibholzfunden im Eis, dass das Schelfeis von Ellesmere Island bis zu 5500 Jahre alt sein könnte. Schelfeis kann 40 bis mehrere 100 Meter dick sein, teilt das US-amerikanische Nationale Schnee- und Eisdatenzentrum mit.

Eisverlust von drei Milliarden Tonnen

Mit nahezu 200.000 Quadratkilometern Fläche ist Ellesmere Island nach der Baffin- und der Viktoria-Insel die drittgrößte, aber nördlichste kanadische Arktisinsel. An ihrer Ostküste stößt sie fast auf Grönland. Wissenschaftler schätzen, dass das Schelfeis an der Nordküste von Ellesmere Island bei seiner Entdeckung 1906 etwa 8900 Quadratkilometer groß war. Bis Sommer 2005, bevor das Ayles-Schelfeis verloren ging, war die Fläche auf 1043 Quadratkilometer zurückgegangen. Jetzt sind es nur noch 563 Quadratkilometer. In 2008 zerbrach das damals 205 Quadratkilometer große Serson-Schelfeis in zwei Teile, die nach dem jetzigen Sommer nur noch 25 und sieben Quadratkilometer groß sind. Ward Hunt verlor in diesem Jahr 40 Quadratkilometer.

„Das mag nicht viel erscheinen, aber wenn wir es mit der 60 Quadratkilometer großen Manhattan-Insel vergleichen, sehen wir, dass es gewaltig ist“, sagt Copland. Die Forscher haben ausgerechnet, dass der Eisverlust in diesem Jahr ein Gewicht von drei Milliarden Tonnen hat, „etwa 500 mal die Masse der Großen Pyramide von Gizeh“, teilen die Universitäten mit.

Wärmere Temperaturen, offenes Wasser

Die Forscher führen das Abbrechen von Eisplatten, das so genannte Kalben, auf eine Kombination von wärmeren Temperaturen und offenem Wasser zurück. Somit gilt auch dies als Indiz für Klimaveränderungen. In den vergangenen fünf bis sechs Jahrzehnten sei die Lufttemperatur im Schnitt um 0,4 Grad Celsius pro Jahrzehnt gestiegen, wobei sich der Temperaturanstieg auf den Winter konzentriert habe, sagt Copland. Heute sei es nicht mehr „so intensiv kalt“ wie noch vor wenigen Jahrzehnten: Während früher minus 40 Grad regelmäßig von Dezember bis Februar erreicht worden sei, seien es jetzt meist nur minus 30 Grad. Für Außenstehende mag es keinen Unterschied machen, ob minus 40 oder minus 30. Nicht so für das Eis, erläutert Copland. „Das Schelfeis absorbiert die Kälte und hält sie für eine lange Zeit. Die Lufttemperatur erreicht viel früher 0 Grad als das Eis, das die Kälte speichert. Aber jetzt verliert das Eis die gespeicherte Kälte schneller.“ Die Zeit der Eisschmelze in Juli und August wird dadurch länger.

Hinzu kommt der Verlust des Meereises im Sommer. Schon seit etwa 2000, verstärkt aber seit 2005, erreicht das Meereis im Sommer nicht mehr die Küste. „Das Meereis aber schützte das Schelfeis vor Wellen und Stürmen.“ Dieser Schutz bestehe nun im Sommer nicht mehr.

Mögliche Gefahr für Bohrinseln

Das abbrechende Schelfeis driftet aufgrund der Meeresströmung zu 90 Prozent Richtung Westen zur Beaufort und Tschuktschen-See. Ölunternehmen, die in diesen Regionen nach Öl suchen, sollten Ausschau nach Eisbergen halten, die Bohrinseln bedrohen könnten, empfiehlt Copland.

Der Wissenschaftler fürchtet, dass „wir in ein paar Jahrzehnten, vielleicht in 20 bis 30 Jahren, das ganze Schelfeis verloren haben könnten“. Aber das sei eine konservative Schätzung, es könnte auch viel schneller gehen, meint er.

Gerd Braune

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