14 Apr 2012

Der Friedhof der Titanic-Opfer

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Schlicht sind die Grabsteine aus poliertem schwarzem Granit. Sie stehen auf Betonsockel, die sich treppenförmig dem leicht ansteigenden Gelände des Fairview Lawn Friedhofs in Halifax anpassen. Die quaderförmigen Steine mit der leicht geneigten Oberseite erinnern an kleine Lesepulte. 121 Grabsteine, die meisten in dieser einheitlich schlichten Form, laden zum Verweilen und Lesen ein. Meist ist ein Namen eingraviert. Manche Grabsteine sind namenlos. Aber auf allen steht: „Died April 15, 1912“ – gestorben am 15. April 1912.

In leichten Bögen führen drei lange Grabsteinreihen auf eine kleine Anhöhe, wo sie aufeinander zulaufen, ohne sich aber zu treffen. Sie erinnern an den Rumpf eines Schiffs. Eine symbolträchtige, vielleicht aber nur zufällige Gestaltung der Gräberreihen. Die Menschen, die hier ihre letzte Ruhestätte fanden, kamen vor 100 Jahren, in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912, ums Leben. Sie waren Passagiere der Titanic. Ihr Leben endete in den eisigen Fluten des Nordatlantik, als der Luxusliner auf seiner Jungfernreise von Southampton nach New York zwei Stunden und 40 Minuten nach dem Zusammenstoß mit einem Eisberg unterging. Von Halifax aus fuhren wenige Tage später Schiffe hinaus, um die Opfer zu bergen. Hoffnung, Lebende zu bergen, hatte niemand mehr. Nirgendwo wurden soviele Titanic-Opfer beigesetzt wie in Halifax: 121 auf dem städtischen Fairview Lawn Friedhof, 19 auf dem katholischen Mount Olivet-Friedhof und zehn auf dem jüdischen Baron de Hirsch-Friedhof – 150 von 337 Opfern, die gefunden wurden.

Grabsteine ohne Namen

Fast eine Stunde verbringt Lorelei Brown zwischen den Gräberreihen. Die 29-jährige Australierin besucht Freunde in Halifax. Schon als Kind hatte sie sich für die Titanic interessiert. „Die Steine ohne Namen berühren mich am stärksten. Sie sind ein Mahnmal für alle Opfer der Titanic“, sagt sie leise. Vor dem Denkmal für das unbekannte Kind geht sie in die Hocke: Errichtet zur Erinnerung an ein unbekanntes Kind, dessen sterbliche Überreste nach dem Desaster der Titanic geborgen wurden, steht auf dem Grabstein. Leise liest Lorelei Brown die Inschrift. Sie scheint mit den Tränen zu kämpfen. Sie streicht sich eine Strähne ihres rötlich gefärbten Haares aus dem Gesicht. „Dies ist das tragischste Denkmal“, sagt sie.

Das Wetter schlägt Kapriolen in diesem Frühjahr in Kanada. An einem Tag liegt eine dünne Schneedecke auf den Gräbern und ein eisiger Wind zieht über die Friedhöfe, dann springt die Quecksilbersäule auf über 20 Grad und die Sonne verbreitet sommerliche Wärme. Ein Gesteck aus Tannenzweigen mit einer kleinen goldfarbenen Geige lehnt am Grabstein von John Law Hume. Er war Mitglied des Bordorchesters, das bis zum Untergang des Schiffs an Deck spielte. Alle acht Orchestermitglieder kamen bei der Katastrophe ums Leben, nur drei – der Violinist Hume, Orchesterleiter Wallace Hartley und Bassist John Frederick Preston Clarke – wurden  geborgen. Während Hartley in seine britische Heimat überführt wurde, fanden Hartley und Hume ihre letzte Ruhestatt in Halifax. (Foto)

Kein leichtes Gedenken für Halifax

Für Halifax ist der 100. Jahrestag der Katastrophe kein leichtes Gedenken. „Wir haben nichts zu feiern. Dies ist ein trauriges Erinnern. Wir sind der Friedhof der Titanic“, sagt Rob Gordon, Journalist des kanadischen Rundfunks CBC in Halifax, der zwei entfernte Verwandte in dem Desaster verlor. Die Titanic und die Orte, die mit ihr in Verbindung stehen, sind ist Teil der Geschichte der Stadt und der Provinz Nova Scotia – die Friedhöfe, die Kirchen, in denen Trauergottesdienste stattfanden, das Pier, an dem die Schiffe mit den Opfern anlegten, das Haus des Millionärs George Wright, der mit der Titanic unterging. Die Stadt bietet unter dem Motto „Legacy of a Voyage“ (Vermächtnis einer Reise) Rundgänge zu den Titanic-Orten an. Halifax bemüht sich, das Interesse der Touristen zu befriedigen, andererseits einen respektlosen Rummel auszuschließen. Im Sommer, wenn die Kreuzfahrtschiffe anlegen, werden die Touristen in Bussen zu den Friedhöfen gebracht, nicht selten verbunden mit Mahnungen, sich beim Rundgang auf den Friedhöfen respektvoll zu verhalten.

John Boileau kennt die Geschichte fast aller namentlich bekannten Opfer. Der frühere Colonel der kanadischen Armee hat zum Jahrestag der Katastrophe das Buch „Halifax and Titanic“ veröffentlicht, das die Verbindungen zwischen der kanadischen Hafenstadt und der fatalen Reise des Luxusdampfers schildert. „Es gibt viele Bücher, die sich mit den Überlebenden befassen, die von der ,Carpathia´ aufgenommen und nach New York gebracht wurden. Ich befasse mich mit dem Schicksal der Opfer. Was geschah mit ihnen, wo wurden sie beigesetzt?“ beschreibt der 67jährige Boileau seine Beweggründe.

Das Todesschiff bringt die Opfer an Land

Zwar liegt St. John´s in Neufundland näher am Unglücksort, aber Neufundland ist eine Insel. Da die White Star Line, Eigentümerin der Titanic, davon ausging, dass ein Teil der Opfer in ihre Heimat überführt wird, wurde entschieden, sie an einen Ort zu bringen, der mit Eisenbahn erreicht werden kann. In Halifax lagen Schiffe, die bei der Verlegung von Telegrafenkabel quer durch den Atlantik eingesetzt wurden. Ihre Besatzung war gewöhnt, unter widrigen Verhältnissen auf hoher See zu arbeiten. Nun hatten die jungen Männer der „Mackay-Bennett“, der „Minia“ und der „Montmagny“ die Aufgabe, im Trümmerfeld der Titanic nach Opfern zu suchen. Die Mackay-Bennett ging als „Todesschiff“ in die Geschichte ein. 306 der 337 Opfer wurden von ihrer Besatzung geborgen.

Boileau hat sich minutiös mit den Ereignissen nach dem Zusammenstoß mit dem Eisberg um 23.40 Uhr am 14. April und dem Untergang um 2.20 Uhr am 15. April auseinandergesetzt. „Nur 713 der 2229 Menschen an Bord überlebten“, sagt er. Selbst diese Zahl ist nicht unumstritten. In der Literatur ist auch von 701oder 705 Überlebenden die Rede. „Das ergibt eine Überlebensrate von 32 Prozent. Mehr als die Hälfte der Passagiere hätten die Katastrophe überleben können, wenn die Rettungsboote bis zu ihrer Kapazität gefüllt worden wären.“ Nur drei der 20 Boote waren komplett besetzt. „Sie hätten 1178 Menschen aufnehmen können.“

Verzweifelter Todeskampf im eisigen Wasser

Dass Kapitän Edward John Smith die Warnungen vor Eisbergen missachtete und die Geschwindigkeit nicht gedrosselt oder der Kurs verändert wurde, war nach Ansicht Boileaus der größte Fehler vor dem Zusammenstoß; dass erst eine Stunde nach der Kollision die ersten Rettungsboote zu Wasser gelassen wurden, war das schlimmste Versäumnis danach. Es blieben nur noch 100 Minuten, die Boote zu füllen. Am Tag des Unglücks, einem Sonntag, war anstelle einer Notfallübung ein Gottesdienst angesetzt worden, die Rettungsboote waren nicht mit Überlebenspaketen ausgerüstet und die Passagiere waren nicht Booten zugeordnet, zählt Boileau Mängel in der Vorbereitung auf einen Notfall auf. „Einige Crewmitglieder wussten nicht einmal, wie man richtig rudert.“

Als das Schiff unterging, schwammen mindestens 1000 Menschen in dem eisigen Wasser und schrien um Hilfe. Sie kämpften verzweifelt um ihr Leben. Im kalten Wasser setzt schnell Unterkühlung ein, die zu Bewusstlosigkeit und dann zum Tod führt. Aber nur wenige Rettungsboote kamen zurück, um sie zu bergen. Die Steuerleute in den Rettungsbooten fürchteten offenbar, dass zu viele Menschen versuchen würden, in die Boote zu kommen und damit das Leben aller gefährdet würde. Es gibt aber auch die Geschichten von mutigen Crewmitgliedern und von Frauen, die das Kommando in den Booten übernahmen und damit zum Überleben vieler Menschen beitrugen. Als siebenjähriges Mädchen erlebte Eva Hart im Rettungsboot 14 zusammen mit ihrer Mutter den Untergang der Titanic. Sie erinnerte sich später an die „grausamen Geräusche der schreienden und ertrinkenden Menschen, bis sie am Ende verstummten“. 300 bis 500 Menschen dürften noch an Bord der Titanic gewesen und mit ihr untergegangen sein.

Ein Curling Club als Leichenhalle

Während die Carpathia vom Konkurrenzunternehmen Cunard die Überlebenden aufsammelte, wurde in Halifax die Mackay-Bennett mit Särgen, Leichensäcken, Eis und Balsamierflüssigkeit beladen. John Snow, ein Bestattungsunternehmer aus Halifax, war ebenso an Bord wie ein anglikanischer Priester. Fünf Tage nach dem Unglück war die Mackay-Bennett am Unglücksort, nach einer Fahrt von 1300 Kilometern. Die Männer an Bord des Schiffs arbeiteten sorgfältig. Die Leichen wurden in der Reihenfolge, in der sie geborgen wurden, nummeriert.  Die gleiche Nummer erhielt ein Leinensack, der alle persönlichen Gegenstände, die sie noch bei sich hatten, oder Kleidungsstücke aufnahm. Dieses System sollte sich später als von unschätzbarem Wert für die Identifizierung er Opfer herausstellen. Zwischen dem 21. und 26. April bargen die Mackay-Bennett und die anderen Schiffe 306 Leichen, von denen 116 auf See bestattet wurden.

Mit 190 Opfern an Bord kehrte das „Todesschiff“ am 30. April nach Halifax zurück. Angehörige aus den USA und Kanada warteten schon am Pier. Die  Geschäfte hatten schwarz geflaggt, Kirchenglocken läuteten. Mehr als drei Stunden dauerte das Entladen. Der Mayflower Curling Club diente als Leichenhalle: Es war der größte Raum in Halifax, der gekühlt werden konnte. Die White Star Line kaufte von der Stadt Halifax Gelände auf den Friedhöfen und gab bei dem Steinmetz Frederick Bishop die Grabsteine in Auftrag. Zwischen dem 3. Mai und dem 12. Juni 1912 wurden die Opfer auf den drei Friedhöfen in Halifax beigesetzt.

Schweigeminute nach Mitternacht

Joan Doherty führt in der Norwood Street in Halifax das Marigold Bed and Breakfast. Für die 62-jährige Frau ist die Titanic Teil ihrer Familiengeschichte. Sie geht in das Wohnzimmer und nimmt ein Schwarzweiß-Foto von der Wand. Es zeigt einen kräftigen Herrn mit einem breitkrempigen weißen Hut. „Das ist mein Großvater, Frederick Bishop“, sagt sie dem überraschten Gast. Im Zentrum von Halifax, in der Argyle Street, hatte er seinen Steinmetzladen. „Wenn meine Mutter über ihren Vater erzählte, dann endete sie ihre Erzählungen meist mit dem Hinweis: Vater stellte die Grabsteine für die Titanic her.“ Als die White Star Line den Auftrag ausschrieb, bewarb sich Bishop und bekam den Zuschlag. In der Familiengeschichte ist notiert, dass die White Star Line sehr zufrieden mit der Arbeit war und Bishop einen nicht näher bezeichneten „Bonus“ bekam.

Eines der wenigen Fotos des Großvaters zeigt diesen mit Rabbi Jacob Finegold an den Titanic-Gräbern auf dem jüdischen Baron de Hirsch-Friedhof. Die Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag der Katastrophe gehen Joan Doherty sehr nahe. „Das alles bringt die Erinnerungen an meine Eltern und ihre Geschichten zurück.“ Sie erinnert sich, dass ihre Mutter ihr von einem Traum ihrer Großmutter berichtet hatte. Als die Titanic unterwegs war, träumte sie, dass ein großes Schiff unterging. Einen Tag später habe sich die Nachricht verbreitet, dass die Titanic gesunken war. „Die Titanic sollte zwar Halifax nicht ansteuern, aber es kamen viele große Schiffe über den Atlantik in unsere Stadt. Halifax ist so sehr mit der Schifffahrt verbunden. Und weil wir am Ozean leben und so viele aus dieser Stadt ihr Leben auf See verloren, hätten wir auch niemals gesagt, dass ein Schiff unsinkbar ist.“

Am Abend des 14. April wird Joan Doherty der Opfer gedenken. Sie will an einer Prozession im Hafen teilnehmen. Kurz nach Mitternacht, zu der Zeit, als in Halifax das letzte Signal der Titanic einging, soll eine Schweigeminute eingelegt werden, Leuchtraketen werden aufsteigen, die die letzten verzweifelten Notsignale der Titanic symbolisieren. Zu dieser Stunde wird der Dampfer MS Balmoral auf seiner „Titanic Memorial Cruise“ am Ort des Untergangs sein. Zwei Tage später, am 16. April, wird die Balmoral in Halifax anlegen.

Das Maritime Museum of the Atlantic

Nicht weit von ihrer Ankerstelle entfernt ist das „Maritime Museum of the Atlantic“ eine Magnet für alle, die sich für Schifffahrt und für die Titanic interessieren. Gerry Lunn, Kurator des Meeresmuseums, bereitet sich mit seinen Mitarbeitern schon seit Monaten auf den Besucheransturm im April vor. Er ist einiges gewöhnt. Das Museum ist für seine Titanic-Ausstellung bekannt und erlebte nach dem Erscheinen von James Camerons Film „Titanic“ Ende 1997  einen enormen Anstieg bei den Besucherzahlen. Vor dem Film zählte das Museum jährlich etwa 110.000 Besucher, im Jahr danach eine Viertelmillion. Im Durchschnitt kommen jährlich 165.000 Besucher. „Wir werden sicher einen deutlichen Anstieg im April und im Sommer sehen“, erwartet Gerry Lunn.

Lunn spricht von der Faszination, die für viele Menschen von dieser Tragödie ausgeht. „Der Untergang dieses Schiffs steht auch für die Hybris der Menschheit“, sagt er. Das Schiff wurde als „unsinkbar“ bezeichnet. „Wie klein sind wir doch im Angesicht der Naturgewalten. Die Titanic sollte der Triumph über die Natur sein – und ein Eisberg genügte um sie zu versenken.“

Das Museum dokumentiert die Reise der Titanic, ihren Untergang, die Rettung von Passagieren und die Bergung der Opfer. Auf einer Wand sind in Wellenform die Namen aller Passagiere aufgeschrieben, schwarz die der Opfer, weiß und hellblau die der Geretteten. Das Museum hat mehrere Objekte von der Titanic erworben, darunter eine Kiste aus Mahagoniholz, die zur Einrichtung in den Erste-Klasse-Kabinen gehörte, und ein Stück der legendären Treppe, die in ihrer Totalen in einem Foto gezeigt wird. Das bemerkenswerteste Stück ist ein Deckstuhl der Titanic. Er war zu kostbar, um ihn offen auszustellen. Er wird in einer Glasvitrine vor einem Bild der Titanic gezeigt. Aber den Besuchern wollte das Museum dann doch die Chance geben, sich in einem Titanic-Stuhl niederzulassen – zumindest in einem originalgetreu nachgebauten Replikat.

In der Mitte des Lebens dem Tod geweiht

John Boileau hat die Lebensgeschichte vieler Titanic-Opfer zusammengetragen, so dass sie nicht vergessen werden. Von Arthur Gordon McCrae, dem australischen Ingenieur, dessen Grab mit dem keltischen Kreuz das auffallendste Denkmal ist. Von Steward Ernest Freeman, dessen Grabstein White Star Line-Eigentümer Bruce Ismay bezahlte, der auch an Bord der Titanic war, aber im Gegensatz zum Großteil der Crew gerettet wurde. Von Joseph Dawson, einem Crewmitglied, dessen Grab zu einer Pilgerstätte wurde, weil er mit „Jack Dawson“ identifiziert wurde, in Camerons Film Titanic gespielt von Leonardo DiCaprio. Und vom „unbekannten Kind“, das erst 2007 durch DNA-Analysen mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit als die 19 Monate alte Sidney Leslie Goodwin identifiziert wurde, die mit ihren Eltern und fünf Geschwistern bei der Katastrophe ums Leben kam. (Foto: Grab des Unbekannten Kindes)

Marie-France Parent und ihr Vater Guy stehen auf dem Fairview Lawn Friedhof  vor den Gräbern. „Alle, die nicht in Rettungsbooten saßen, wussten, dass sie verloren sind. Dass es keine Hilfe gab. Es ist unmöglich sich vorzustellen, was in diesen Menschen vor sich ging“, sagt Guy Parent aus Ottawa. „Es ist überwältigend dies hier zu sehen“, ergänzt seine Tochter. „In der Mitte der Nacht, keine Hilfe in Sicht.“ Dann liest sie die Inschrift auf dem Grabstein des 21-jährigen Harold Reynolds. Sie erzählt von der Einsamkeit, dem Alleinsein, nur mit Gott an der Seite. Von der vergeblichen Hoffnung auf Hilfe. Und sie schließt mit dem verzweifelten Ruf, in der Mitte des Lebens dem Tod geweiht zu sein: „In the midst of life, we are in death.“

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