„Beziehungen der Ureinwohner
Kanadas zu Regierung
von Misstrauen geprägt“

Ottawa, 16. Oktober 2013. Ein hohes Maß an Misstrauen prägt die Beziehungen der Ureinwohner Kanadas zu ihren Regierungen. Kanada sollte stärker auf Konsens und Dialog statt auf einen konfrontativen Stil setzen, mahnt der UN-Sonderberichterstatter für indigene Rechte, James Anaya. Die Lage der Menschenrechte der indigenen Bewohner Kanadas und ihren niedrigeren Lebensstandard im Vergleich zur restlichen Bevölkerung nennt er eine „Krise“.
UN-Sonderberichterstatter Anaya: Lage der indigenen Völker eine „Krise“ für Kanada

Neun Tage war Anaya durch das Land gereist, um für den UN-Menschenrechtsrat einen Bericht über die Lage der Ureinwohner Kanadas zu erstellen, der im September 2014 vorgelegt werden soll. Er hatte mit der Bundesregierung in Ottawa gesprochen und führende Vertreter der Ureinwohnervölker, der Indianer (First Nations), der Inuit und der Metis getroffen. Beim Besuch abgelegener Gemeinden der Ureinwohner hatte er sich ein Bild aus erster Hand gemacht. In diplomatischem Ton würdigte er in seiner abschließenden Pressekonferenz am Dienstag Kanada als führende Kraft auf internationaler Bühne bei der Förderung von Menschenrechten, lobte die Anerkennung der Rechte der Ureinwohner durch Kanadas Verfassung, Programme zur Verbesserung der Lebensbedingungen und Versuche der Versöhnung zwischen Mehrheitsgesellschaft und Ureinwohnern.

Aber insgesamt könne er aus dem, was er erfahren habe, „nur schließen, dass Kanada einer Krise gegenübersteht, was die Lage der indigenen Völker des Landes angeht“. Er beklagte die Wohlstandslücke zwischen den Ureinwohnern und der restlichen Gesellschaft, die in den vergangenen Jahren nicht kleiner geworden sei. In diesem für seinen Wohlstand bekannten Land lebten die Ureinwohner unter Bedingungen, die man nur aus Ländern mit großer Armut kenne. „Mindestens einer von fünf indigenen Kanadiern lebt in Häusern, die stark reparaturbedürftig sind, die oft überlegt und von Schimmel verseucht sind.“ Die fünfmal höhere Suizidrate unter jungen Indianern und Inuit sei alarmierend und die Wahrscheinlichkeit für Ureinwohnerfrauen, ermordet zu werden, sei achtmal höher als für nicht-indigene Frauen.

Hohe Zahl ermordeter oder vermisster indianischer Frauen ein "bestürzendes Phänomen"

Die Ermordung und das Verschwinden indigener Frauen war eines der Themen, mit denen Anaya am stärksten konfrontiert wurde. Die Vereinigung der indigenen Frauen Kanadas spricht von annähernd 600 Fällen vermisster Frauen und Mädchen. Einige Fälle reichen in die 1960-er Jahre zurück, die meisten datieren aus den 1990-er Jahren und dem vergangenen Jahrzehnt. Die Täter kommen aus der indigenen und nicht-indigenen Bevölkerung, aber die Aufklärungsquote dieser Verbrechen ist deutlich niedriger als bei Verbrechen gegen „weiße“ Frauen. Anaya sprach von einer „Epidemie“ und einem „bestürzenden Phänomen“. Er unterstützt die Forderung der Indianer, Inuit und Metis, mit einer nationalen Untersuchung die Ursachen und Hintergründe des Verschwindens so vieler Ureinwohnerfrauen zu klären und auf Bundes- und Provinzebene die Maßnahmen zum Schutz der Frauen zu koordinieren. Die konservative Regierung von Premierminister Stephen Harper lehnt die Einsetzung einer Untersuchungskommission bisher aber kategorisch ab.

Anaya empfiehlt der Regierung generell, die Ureinwohner stärker zu konsultieren und auf Dialog zu setzen. Dies gilt sowohl für das geplante Gesetz zur Ausbildung der Indianer, bei dem sich die First Nations übergangen fühlen, als auch bei der Rohstoffförderung auf Territorien, die sich für sich beanspruchen. Bei Landrechten sollte die Regierung einen „weniger feindlichen“ Ansatz wählen. Er kritisierte, dass die Rohstoffförderung vorangetrieben werde, während Regierung und Ureinwohner noch über die Rechte an der Nutzung des Landes verhandelten.

Anaya empfiehlt Kanadas Regierung einen kooperativeren Stil

Vor allem bei Fragen der Ausbildung fordert Anaya nach der Katastrophe der staatlichen Internatsschulen (Residential Schools) einen kooperativen Stil, um das tief sitzende Misstrauen der Ureinwohner abzubauen. Mit der Aufarbeitung der Folgen der Residential Schools, die ausdrücklich die Auslöschung indianischer Kultur, Sprache und Identität zum Ziel hatten, befasst sich seit einigen Jahren eine Wahrheits- und Versöhnungskommission. Forderungen der Ureinwohner, das Mandat dieser Kommission über 2015 hinaus zu verlängern, hat die Regierung aber abgelehnt. Auch hier empfiehlt Anaya ein Einlenken.

Jeder Gesetzgebung, die die Ureinwohner betreffe, ohne dass diese ausreichend daran beteiligt sind, mangelt es an Legitimität, mahnt Anaya, ein Jurist indianischer Abstammung, der an der Universität von Arizona Menschenrechte lehrt. Er hofft, dass die Regierung Harper seine Empfehlungen aufgreift. Diese hat in den vergangenen Jahren allerdings mehrmals zu erkennen gegeben, dass die Vereinten Nationen für sie keine besonders hohes Priorität genießen.

Gerd Braune

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Dieser Text erschien redaktionell bearbeitet im
Luxemburger Wort (17. Oktober 2013)