Noch sind nicht alle Träume der Inuit Kanadas erfüllt

Iqaluit, 1. April 2009. Bald werden auch in Kanadas Arktis nach den dunklen Wintermonaten die Tage wieder länger. Wenn Andrew Beveridge-Tagornak dann Zeit hat, fährt er mit Freunden oder älteren Inuit zum Fischen hinaus auf die Frobisher Bay. Oder er geht in die Tundra auf Karibu-Jagd. Dies ist das traditionelle Leben der Inuit, der Ureinwohner der Arktis, und eine willkommene Abwechslung vom Berufsalltag. Der 27jährige Inuk arbeitet bei der „Qikiqtaaluk Information Technology Corporation“ in Iqaluit, der Hauptstadt des Territoriums Nunavut, als Computertechniker. „Wir haben die neuen Technologien und unsere Traditionen“, sagt Andrew.
Das Arktisterritorium Nunavut ist zehn Jahre alt

Am 1. April wird in den 27 Gemeinden des zwei Millionen Quadratkilometer großen Territoriums Nunavut gefeiert. Vor genau zehn Jahren, am 1. April 1999, trat das Gesetz in Kraft, das das Gebiet aus den damaligen Nordwest-Territorien herauslöste und ihm den Status eines eigenen Territoriums mit eigener Regierung gab. Die Gemeinden sind nur mit Flugzeug oder mit Schiff zu erreichen. Straßenverbindungen gibt es nicht. Die Hauptstadt Iqaluit („Die Fischreiche“) hat 6000 Einwohner. Insgesamt leben 30.000 Menschen in Nunavut, das ein Fünftel der Größe Kanadas hat und mehr als fünfmal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland.

Dem Gesetz über die Gründung Nunavuts war eine ebenso wichtige Vereinbarung zwischen den Inuit und der Zentralregierung in Ottawa vorausgegangen, das „Nunavut Land Claims Agreement“, das die Landansprüche der Inuit regelte: 1993 erhielten die Inuit Kontrolle über 356.000 Quadratkilometer Land. Hier können sie bestimmen, was auf ihrem Land geschieht. Darin enthalten sind 38.000 Kilometer, auf denen sie nicht nur die „überirdischen“ Nutzungsrechte haben, sondern auch Anspruch auf die Bodenschätze. Bedeutende Rohstofflager, etwa Eisenerz, Diamanten und Uran, befinden sich auf Inuit-Land.

Nunavut, unser Land

In Inuktitut, der Sprache der Inuit, bedeutet Nunavut „Unser Land“. 85 Prozent der Bewohner des Territoriums sind Inuit. Mit der Schaffung von Nunavut ging ein Traum der Inuit in Erfüllung. Endlich hatten die Ureinwohner der Arktis die Möglichkeit, bei der Verwaltung und Nutzung des von ihnen traditionell besiedelten Gebietes mitzuentscheiden. Die Regierung wird zwar von allen Bewohnern gewählt, von Inuit und Nicht-Inuit. Die starke Mehrheit der Ureinwohner garantiert aber, dass die Regierung ihre Kultur reflektiert.

Aufgewachsen unter Bedingungen des Kolonialismus

„Unsere Kinder werden glücklicherweise nie erfahren, was es heißt, unter den Bedingungen des Kolonialismus aufzuwachsen. Unsere Väter erlebten eine Zeit, in der ihnen ihre Unabhängigkeit und ihre Menschenrtechte weggenommen wurden“, sagt der heute 62jährige John Amagoalik. Er gilt vielen als der „Vater von Nunavut“, weil er maßgeblich das Landrechte-Abkommen und das Gesetz über die Gründung Nunavuts aushandelte. Er  wurde 1946 in Inukjuak, einer kleinen Gemeinde im arktischen Gebiet Nord-Quebecs geboren. Aber in den 50er Jahren wurden Inuit aus dieser Gegend in die Hohe Arktis, das heutige Resolute umgesiedelt. Auch seine Familie half dadurch, Kanadas Souveränitätsansprüche im Norden zu untermauern. Aber es war ein schmerzvoller Verlust der Heimat. Diese Erfahrung, die erzwungene Umsiedlung, war für viele Inuit ein lange wirkendes Trauma. „Es gab eine Zeit, als viele meiner Generation nicht stolz auf ihre Inuit-Identität waren, aber auch nicht sicher waren, ob sie kanadische Staatsbürger sein wollten. Jetzt sehen wir das Wiedererstarken des Inuit-Stolzes und wir sind loyale Kanadier.“

„Ich bin froh, dass wir Nunavut haben“, sagt Andrew Beveridge-Tagornak. Auf seinem Schreibtisch stehen mehrere Computer. Er ist Fachmann für Fehleranalyse und „data recovery“, die Rettung von Festplattendaten im Falle eines Computercrashs. In Repulse Bay an der Westküste der Hudson Bay hatte Andrew zunächst als Fotograf gearbeitet, vor fünf Jahren aber die Ausbildung zum Umwelttechniker am Arktischen College in Iqaluit begonnen. Nach einem Jahr aber brach er das Studium ab. „Ich arbeite gerne mit Computern, deshalb nahm ich das Angebot von Qikiqtaaluk Information an, bei ihnen anzufangen“, beschreibt er seinen Werdegang.

Moderne Welt und Pflege der Traditionen

Nun verkörpert er das, was Nunavut heute ausmacht: Es ist der Versuch, in der modernen Welt zu leben, zugleich aber die Traditionen des arktischen Ureinwohnervolkes zu pflegen. „Wenn wir auf die Jagd gehen, nehmen wir ein GPS mit, damit wir im Falle eines Blizzards nicht verloren sind. Aber unsere traditionellen Kenntnisse helfen uns auch, im Schneesturm zu überleben, auch wenn das GPS ausfällt. Aufgrund unseres Wissens über den Wind und die Schneebänke, die er formt, können wir uns immer noch orientieren“, sagt er.

Bis Herbst 2008 wurde Nunavut von Paul Okalik, dem ersten ausgebildeten Juristen Nunavuts, regiert. Im November wurde Eva Aariak zum Premier gewählt. In Iqaluit hatte die Inuk-Frau, die in Arctic Bay in der hohen Arktis geboren wurde, ein Geschäft geführt, zuvor bekleidete sie mehrere Jahre das Amt des Sprachenbeauftragten und half damit, Inuktitut als lebendige Amtssprache zu etablieren. Tatsächlich gehört Inuktitut heute zu den wenigen Sprachen von Ureinwohnervölkern Kanadas, die nicht vom Aussterben bedroht sind. Im vergangenen Jahr entschied sie dann, sich um ein Mandat im Territorialparlament zu bemühen. Sie wurde nicht nur in ihrem Wahlkreis gewählt, sondern dann auch noch zur Regierungschefin.

Nunavuts Aufholjagd gegenüber Kanada

„Ich bin es leid, dass Nunavut anhand unserer Probleme, Misserfolge und Sorgen beschrieben wird“, sagt die Politikerin, die als Halsschmuck gerne ein Collier mit einem kleinen goldenen Ulu trägt, dem traditionellen gebogenen Messer, mit dem Inuit-Frauen Fleisch und Fett von den Häuten erlegter Tiere abschaben. Aber auch sie muss gleichzeitig einräumen, dass die Träume der Inuit nur langsam in Erfüllung gehen. „Vor zehn Jahren waren unsere Gemeinden voller Hoffnung und Optimismus, als wir von unserem Territorium träumten. Wenn ich heute um mich blicke, muss ich feststellen, dass Energie und Enthusiasmus offenbar verloren gingen.

Was nicht verwundert angesichts der Herausforderungen, die Nunavut hatte und noch immer hat. Die Probleme sind, wie Ex-Premier Okalik sagte, „systemischer“ Art und reichen Generationen zurück. Nunavut befindet sich immer noch in einer Aufholjagd gegenüber dem restlichen Kanada. Das Territorium hat großes Potenzial: Es hat die jüngste Bevölkerung Kanadas mit einem stark ansteigenden Trend. Während in Kanada der Bevölkerungszuwachs jährlich bei 5,4 Prozent liegt und überwiegend auf Immigration beruht, sind es in Nunavut 10,2 Prozent, und dies fast ausschließlich durch die hohe Geburtenrate. In Nunavut sind 53 Prozent der Bevölkerung unter 25 Jahre alt, nur drei Prozent sind älter als 65 Jahre. In Gesamt-Kanada aber sind nur 31 Prozent jünger als 25 Jahre, die über 65jährigen stellen 14 Prozent der Bevölkerung.

Arbeitsplätze und Schulbildung

Damit ist die Schaffung von Arbeitsplätzen in den abgelegenen kleinen Gemeinden ein Hauptanliegen der Politik. Die Arbeitslosigkeit ist mit 15 Prozent etwa doppelt so hoch wie im restlichen Kanada. Die Qualifikation der jungen Menschen bleibt weit hinter der der übrigen Kanadier zurück. Von den 20- bis 24jährigen Nunavummiut, wie die Bewohner Nunavuts heißen, haben 65 Prozent keinen High School-Abschluss, für ganz Kanada lautet die Zahl 13,8 Prozent. „Die vielleicht größte Herausforderung ist es sicherzustellen, dass die Generation der Nunavummiut im Alter bis 24 Jahre die High School mit einem Abschluss beenden, der ihnen das notwendige Handwerkszeug für Erfolg gibt“, heißt es im aktuellsten „Ökonomischen Ausblick“ für Nunavut.

Schule war für viele Generationen von Inuit ein Symbol für aufgezwungene westliche Lebens- und Denkweise. Lehrer kamen aus dem Süden und brachten ihre Kultur mit. Dies ändert sich nun: Immer mehr Lehrkräfte kommen aus dem Inuit-Volk, im Grundschulbereich unterrichten mittlerweile fast ausschließlich Inuit. Erfolge sind bereits messbar: Die Zahl derer, die die Schule mit Diplom abschließen, hat sich in  zehn Jahren etwa verdoppelt, auch wenn sie immer noch unter dem Landesdurchschnitt liegt. Juristen, Krankenschwestern und Verwaltungsmitarbeiter kommen nun aus dem Inuitvolk. Unternehmen, die sich in Nunavut ansiedeln, bilden junge Menschen aus.

Wohnungsnot und hohe Suizidrate

Aber die sozialen Probleme sind weiter gewaltig: Die Wohnungsnot ist dramatisch. Häuser mit drei Schlafzimmern und zehn bis 15 Menschen sind keine Ausnahme. Dies wiederum hindert junge Menschen, sich am Nachmittag mit Hausaufgaben für die Schulen zu beschäftigen. Im Kampf gegen Rauchen steht Nunavut noch am Anfang: 53 Prozent der Bevölkerung rauchen (gegenüber 19 Prozent in Kanada). Lungenerkrankungen treten doppelt so häufig auf. Die Kindersterblichkeit ist höher und Lebenserwartung geringer. Drogen und Alkohol sind in manchen  abgelegenen Kommunen ein drängendes Problem. Und eine Katastrophe ist die Suizidrate, bei der Nunavut weltweit mit an der Spitze liegt. Statistisch gesehen kommen auf 100.000 Menschen in Nunavut 80 Suizide oder Selbstverletzungen, fast achtmal mehr als die Durchschnittszahl für Kanada. Psychologen sehen dies unter anderem als Folge des Kulturschocks beim schnellen Übergang des Volkes von einer Nomadengesellschaft hin zur Moderne.

Visionen und Hoffnungen

„Wir werden an die Visionen und Hoffnungen anknüpfen“, verspricht Eva Aariak. „Wir müssen uns der Probleme und Grenzen bewusst sein, uns aber auch auf unsere Stärken konzentrieren“, fordert sie. Auch John Amagoalik, der Vater von Nunavut, weiß um die Probleme. „Vielleicht sind manche  etwas enttäuscht. Die Erwartungen waren sehr hoch. Die Menschen müssen verstehen, dass es Zeit braucht, um Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu korrigieren. Ich glaube, dass wir jetzt die Realität akzeptieren.

„Es geht voran. Nicht schnell, aber beständig“, glaubt Andrew, der Computerfachmann in Iqaluit. Er ist zuversichtlich, „dass Nunavut uns helfen wird, in beiden Welten zu leben“. Noch ist die Frobisher Bay bei Iqaluit gefroren, das Land liegt unter einer Schnee- und Eisdecke. Bald kommt der Frühling. Dann lässt Andrew seinen Computer stehen und geht Jagen und Fischen, wie es die Inuit seit Jahrtausenden tun.

Gerd Braune

© Gerd Braune
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Dieser Text erschien redaktionell bearbeitet am 28. März 2009 in Berliner Zeitung und am 5. April in Die Presse, Wien

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