Blick in die „dunkelsten Ecken“
der Lebensrealität der
Ureinwohner Kanadas

Ottawa, 10. Oktober 2013. Mit dem Besuch des UN-Sonderbeauftragten für Menschenrechte, James Anaya, verbinden Kanadas Ureinwohner die Hoffnung, dass er die „dunkelsten Ecken“ der Lebenswirklichkeit der Ureinwohner Kanadas als benachteiligte Bevölkerungsgruppe ausleuchten werde. Anaya bereist derzeit Kanada, um einen Bericht für den UN-Menschenrechtsrat zu erstellen. Der "Special Rapporteur" ist seit Montag in Kanada. James Anaya, ein Jurist indianischer Herkunft und Menschenrechts- und Politikprofessor an der Universität Arizona, wurde 2008 zum UN-Sonderberichterstatter ernannt.
James Anaya, UN-Sondergesandter für indigene Rechte, reist durch Kanada

Er wolle sich mit den Problemen befassen, mit denen die indianischen Völker, die Inuit und die Metis Kanadas konfrontiert sind, sagte er zu Beginn seines Besuchs, der offiziell auf Einladung der Regierung Kanadas und der Ureinwohnervölker stattfindet. Einen vorläufigen Bericht wird er am Dienstag geben, den Abschlussbericht will er im September 2014 vorlegen. Anaya besucht mehrere abgelegene und von Ureinwohnern besiedelte Gemeinden, um aus erster Hand Informationen über ihre Lebensbedingungen zu erhalten. Als Themen nennt er Verwaltung und Selbstverwaltung, Ressourcennutzung und wirtschaftliche Entwicklung, Gesundheit und Bildung und die Ermordung und das Verschwinden vieler indigener Frauen in Kanada. Er wolle sowohl „gute Praktiken" in Kanada als auch Defizite und notwendige Veränderungen identifizieren, sagte er.

250 Jahre British Royal Proclamation

Die Erwartungen der kanadischen Ureinwohner sind groß. Anayas Besuch fällt just auf den 250. Jahrestag der „British Royal Proclamation“ von 1763, in der erstmals die Rechte der Ureinwohner niedergeschrieben und die Grundlagen für die Verträge geschaffen wurden, die in den darauffolgenden Jahrhunderten zwischen der britischen Krone und den indigenen Völkern geschlossen wurden.

Premierminister Stephen Harper würdigte anlässlich dieses Jahrestags die „wichtige Rolle“, die die Ureinwohner bei der Schaffung des heutigen Kanadas spielten, und versprach, partnerschaftlich mit den First Nations – so nennen sich die Indianervölker –, Inuit (Eskimo) und Metis zusammenzuarbeiten.

Protest der Bewegung "Idle No More"

Die Indianer begingen das Jubiläum aber anders. Die indianische Protestbewegung „Idle No More“ veranstaltete landesweit rund 50 Demonstrationen gegen Kanadas Politik gegenüber den Ureinwohnern. Sie sprach von Jahrhunderten der Vernachlässigung und des Missbrauchs und einer Ära „beschämender kolonialer Geschichte Kanadas“, die beendet werden müsse.

Der nationale Oberhäuptling Shawn Atleo forderte, dass die Ureinwohner selbst die bestimmende Kraft für Veränderungen sein müssten. Die Ureinwohner Kanadas sehen sich in zahlreichen Fällen weiter von der Regierung bevormundet und übergangen, etwa bei der Förderung von Bodenschätzen auf ihrem traditionellen Land, in der Ausbildung, bei der Fürsorge für Kinder, „in allen Aspekten unseres Lebens“, sagte Atleo. In etlichen Regionen Kanadas protestieren Indianer gegen Aktivitäten von Rohstoffkonzernen und Pipelinebau.

Die Tragödie der verschwundenen Frauen

Eines der brennenden Themen ist die Ermordung und das spurlose Verschwinden Hunderter Frauen und Mädchen aus den Ureinwohnervölkern in den vergangenen Jahrzehnten. Die konservative Regierung hat es bisher abgelehnt, dazu eine offizielle Untersuchung einzuleiten. Der Verband der indigenen Frauen Kanadas spricht von mindestens 600 verschwundenen oder ermordeten indianischen, Inuit- und Metis-Frauen seit den 1960er Jahren. Amnesty International nennt dies eine „nationale Menschenrechtstragödie“. Ureinwohnerorganisationen beklagen, dass die Polizei in der Vergangenheit bei Gewalttaten gegen indigene Frauen nicht mit gleichem Nachdruck ermittelt habe wie bei weißen Frauen und dass Gewalt gegen indigene Frauen oft totgeschwiegen werde. Dass die Regierungspolitik bis vor wenigen Jahrzehnten vom Versuch der Assimilierung und Auslöschen der Ureinwohnerkultur geprägt war, erfüllt nach Ansicht mancher Indianerführer die Definition der Vereinten Nationen für Genozid.

Atleo will Anaya mit den schlechteren Lebensbedingungen in Ureinwohnergemeinden und der Kluft zum Lebensstandard im restlichen Kanada konfrontieren sowie mit den nach Ansicht der Indianer nicht erfüllten Versprechungen und Verpflichtungen aus zahlreichen Dokumenten und Verträgen. Es sei an der Zeit, „die tiefsten, dunkelsten Ecken der Lebensrealität der indianischen Nationen auszuleuchten“, formulierte Atleo seine Erwartungen, die er mit dem Besuch verbindet.

Gerd Braune

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