Pessimistischste Eisprognosen
und „worst case“-Szenarien
für Arktis wurden Realität

Ottawa/Hamburg, 19. September 2012. Auch pessimistischste Prognosen und „worst case“-Szenarien bei der Berechnung des Eisverlustes im Arktischen Ozean werden in diesem Sommer noch unterboten. Deutsche Wissenschaftler gaben am Mittwoch die Eisfläche mit 3,37 Millionen Quadratkilometern an. „Das Meereis der Arktis ist in diesem Jahr so stark geschrumpft wie nie zuvor seit beginn zuverlässiger Satellitenmessungen im Jahr 1973“, teilten sie in Hamburg mit. Der bisherige Negativrekord von 2007 lag bei 4,3 Millionen Quadratkilometern.
Nur noch rund 3,3 Millionen Quadratkilometer Eis im Arktischen Ozean - Minusrekord von 2007 deutlich unterboten

Die Meereisdehnung von 3,37 Quadratkilometern war am Sonntag gemessen worden und könnte in den kommenden Tagen sogar noch leicht unterschritten werden, weil im Nordpolarraum die Bildung neuen Eises nach Ende des arktischen Sommers noch nicht begonnen hat. Das an der Universität von Colorado in Boulder ansässige National Snow and Ice Data Center (NSIDC) hat ebenfalls noch nicht das Ende der Eisschmelze konstatiert. Es gab am Dienstag die Meereisfläche mit 3,41 Millionen Quadratkilometern an. Vor wenigen Wochen hatte ein Wissenschaftler des NSIDC 3,5 Millionen als „worst case“-Szenario erachtet.

Damit ist in den vergangenen drei Jahrzehnten die Eisdecke im Sommer um mehr als die Hälfte geschrumpft. Sie lang in den Jahren 1979 bis 2000 noch zwischen sechs und acht Millionen Quadratkilometern. Zudem nahm die Dicke der Eisschicht ab. Die Meereisfläche in den polaren Ozeanen wird seit Anfang der 1970-er Jahre kontinuierlich von Satelliten gemessen.

In ganzer Ausprägung nur durch menschengemachten Klimawandel zu erklären

„Das arktische Meereis ist ein Frühwarnsignal und gilt als kritisches Element im Erdsystem: Wenn weniger helles Eis das Sonnenlicht ins All zurückstrahlt und mehr dunkle Ozeanflächen Wärme aufnehmen, treibt das die globale Erwärmung voran“, sagte Peter Lemke vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Die Wissenschaftler betonten, aktuelle Studien zeigten übereinstimmend, „dass dieser extreme Rückgang in seiner ganzen Ausprägung nur durch den menschengemachten Klimawandel erklärt werden kann“. Die Klimaforscher erwarten in Zukunft einen weiteren Rückgang des Meereises, so dass das Nordpolarmeer schon in wenigen Jahrzehnten im Sommer weitgehend eisfrei sein könnte. Der Rückgang des Meereises hat sich in vergangenen zehn Jahren beschleunigt. Der Rekordverlust 2007 kam überraschend, da die Fläche viel schneller schrumpfte als von den Klimamodellen prognostiziert.

Zwar gibt es Abweichungen in der Berechnung der Eisfläche – so gibt das NSIDC den Wert für 2007 mit 4,17 Millionen Quadratkilometern an – „aber ausnahmslos alle Zeitreihen zeigen in diesem Jahr eine rekordniedrige Eisbeckung“, unterstrich Georg Heygster von der Universität Bremen. Unterschiede können dadurch entstehen, dass Satelliten Gebiete mit Eis teils als offenes Gewässer interpretieren, wenn sich im Sommer auf der Oberfläche größere Tümpel Schmelzwasser bilden. Je fragmentierter das Eis ist, umso schwieriger wird die Berechnung.

Mittlere Eisdicke in Zentralarktis nur 90 Zentimeter

„Neben der reinen Flächenmessung sind auch die Änderungen im Eisvolumen von großer Bedeutung“, sagte Lars Kaleschke vom KlimaCampus der Universität Hamburg. Allerdings ist die Messung der Eisdicke mit Satelliten erst seit etwa zehn Jahren möglich. Geschätzt wird aufgrund der Daten der ESA Satellitenmissionen SMOS und CryoSat-2, dass sich die Eisdicke am Ende der Schmelzsaison in der Arktis in den vergangenen Jahrzehnten von 2,5 auf heute rund einen Meter verringert hat. Messungen vom Forschungsschiff Polarstern ergaben in der zentralen Arktis eine mittlere Eisdicke von nur 90 Zentimetern.

Der Eisrückgang lasse sich nach dem derzeitigen Forschungsstand in diesem Ausmaß nur durch einen von Menschen verursachten Klimawandel erklären, betonten die Forscher. „Erdgeschichtlich gesehen gibt es eine Vielzahl von Faktoren, die in der Vergangenheit das Arktiseis reduziert hben, für den derzeitigen Rückgang können diese jedoch weitgehend ausgeschlossen werden“, meinte Dirk Notz vom Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie.

Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung verwies auf mögliche Folgen des Flächenverlusts an weißem Meereis, wodurch weniger Sonnenenergie ins Weltall reflektiert wird. „Dies hat sowohl globale als auch konkrete regionale Auswirkungen, zum Beispiel für das Schmelzen des Grönländischen Eisschildes.“ Permafrostböden könnten schneller auftauen und die Luftdrucksysteme verändert werden. „Der Eisrückgang erhöht den Wärmeaustausch zwischen Ozean und Atmosphäre“, erläuterte Rüdiger Gerdes vom AWI. Dies beeinflusse größräumige Windfelder. „Extreme Winter in Europa können dadurch häufiger werden.“ Für die Menschen im hohen Norden hat die Erwärmung des Meerwassers beträchtliche Folgen: Mit dem arktischen Ökosystem ändern sich auch die Lebensgrundlagen der Ureinwohnerbevölkerung.

Gerd Braune

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Dieser Beitrag erschien redaktionell bearbeitet in
Rheinpfalz
Badische Zeitung
Luxemburger Wort (20. September 2012)