Tuberkulose plagt Gemeinden in Kanadas Arktis

Happy Valley-Goose Bay, 18. März 2011. Beengte Wohnverhältnisse, Armut und schlechte Ernährung sind der Nährboden für die Verbreitung von Tuberkulose. Kanadas Arktisregionen, wo Familien oft auf engstem Raum zusammenleben, melden nun einen Rekord an Tuberkulosefällen. Die Lungenkrankheit kommt in den Inuit-Gemeinden der Arktis um ein Vielfaches häufiger vor als im restlichen Kanada. Alle vier Inuit-Regionen verzeichnen eine alarmierende Entwicklung.
Zahl der Erkrankungen um ein Vielfaches höher – Schlechte Wohnverhältnisse sind Nährboden für Lungenkrankheit – Trauma der 50-er Jahr

Krankheitsraten so hoch wie schon lange nicht mehr
„Die meisten Menschen glauben, dass diese Krankheit in Kanada ausgerottet ist. Aber für uns ist sie Realität“, sagt Gale Turner. Die 59-jährige Krankenschwester in Happy Valley-Goose Bay in Labrador weiß, wovon sie spricht. Sie leitet das Nationale Gesundheitskomitee der Inuit und sieht, was sich in den vier Regionen tut, in denen die Inuit, die Ureinwohner der Arktis, leben. „Wir sind sehr besorgt. TB war nie ganz verschwunden. Aber nun haben wir Krankheitsraten so hoch wie schon lange nicht mehr. Nicht nur im Territorium Nunavut, sondern auch in Nunavik in Nord-Quebec, Nunatsiavut in Labrador und in der Inuvialuit-Region der Nordwest-Territorien“, sagt die Inuit-Krankenschwester.

Der kanadische Ärztebund schlägt angesichts der Infektionszahlen Nunavuts Alarm. „Das ist nicht nur Nunavuts Problem, es ist Kanadas Problem“, heißt es im Editorial des Journals der Canadian Medical Association. Mindestens 100 neue aktive Fälle wurden 2010 in Nunavut dokumentiert, eine Erkrankungsrate, die 62 Mal höher ist als der kanadische Durchschnitt. Besonders beunruhigt die Mediziner, dass Jugendliche und junge Erwachsene sehr stark betroffen sind.

TB-Rate „wie in Entwicklungsländern“
TB komme in der Arktis in einer Rate vor, „die wir in Entwicklungsländern sehen“, sagt einer der Verfasser des Editorials, Matthew Stanbrook vom Toronto Western Hospital, dem kanadischen Rundfunk CBC. Die Statistik des kanadischen Gesundheitsamtes zeigt die Diskrepanz zwischen der Mittelklasse und den Ureinwohnern des Polargebietes. 2009 gab es in Kanada 1599 neue aktive TB- Fälle. Dies sind 4,7 auf 100.000 Bewohner des etwa 33 Millionen Menschen zählenden Landes. Nimmt man nur die in Kanada geborenen Menschen ohne Ureinwohner und Immigranten, so kommt TB fast nicht mehr vor: Statistisch erkrankt dann nur einer von 100.000 Menschen. Bei den indianischen Bewohnern liegt die Rate schon bei 27. Betrachtet man lediglich das knapp 50.000 Menschen zählende Inuit-Volk, ist die Zahl schockierend: 89 Fälle in 2009 bedeuteten eine Erkrankungsrate von 155. Sie wird für 2010 noch höher sein.

Wenn Gale Turner die Siedlungen ihres Volkes besucht, kommt sie in Häuser, in denen auf engem Raum oft mehrere Generationen zusammen leben. Mehr als zehn Menschen in einer Wohnung mit zwei Schlafzimmern sind keine Seltenheit, die Ansteckungsgefahr ist hoch. Die Häuser werden vor allem im Winter schlecht belüftet, ihr Zustand oft miserabel. Gesunde Lebensmittel sind in den abgelegenen Gemeinden horrende teuer. Hinzu kommt, dass die Raucherquote unter den Inuit extrem hoch ist: 20 Prozent der Kanadier rauchen, aber mehr als 50 Prozent der Bewohner Nunavuts. Lungenkrebs ist doppelt so häufig wie in Gesamt-Kanada. Die Lebenserwartung der Inuit liegt unter dem Landesdurchschnitt, Armutsrate und Arbeitslosenquote sind hoch. „TB ist eine soziale Krankheit“, sagt Gale Turner und verweist auf London, wo ein Gebiet mit schlechten Wohnverhältnissen die höchste TB-Rate Europas aufweist.

Hohe Zahl latenter Fälle
In Nunavut gehen Mitarbeiter der Gesundheitsbehörden in Kindergärten und Schulen und testen Kinder. Hoch scheint die Zahl „latenter“ Fälle. TB- Bakterien können lange im Körper ruhen und werden bei Schwächung des Immunsystems aktiv. „Viele Inuit sind in keiner guten gesundheitlichen Verfassung“, sagt Turner. Die Therapie – zweimal pro Woche Antibiotika über neun Monate – ist nicht sehr teuer, erfordert aber intensive Betreuung. In vielen Gemeinden gibt es keinen Arzt. Für eine Röntgenaufnahme müssen Patienten ausgeflogen werden. „Möchten Sie drei Tage für eine Röntgenaufnahme von zuhause weg sein?“ fragt sie.

Händler und Walfänger importierten die „weiße Plage“
Zu all dem kommt ein Trauma aus den 50-er Jahren. TB war unbekannt, bis die Weißen kamen, die Händler und Walfänger, die die „weiße Plage“ mitbrachten. Es war die Zeit des innerkanadischen Kolonialismus. TB-kranke Inuit wurden ausgeflogen. Die erzwungene Deportierung trennte Kranke von ihren Familien. Viele kamen nie zurück. Sie starben, oft wussten die Angehörigen nicht einmal, wo sie begraben wurden. „Wir erinnern uns, dass Kranke einfach weggebracht wurden und nicht mehr kamen“, sagt Gale Turner. „Diese Erblast der Angst wurde über Generationen weitergetragen.“ Es kann auch heute noch die Beziehungen zwischen Patienten und den Gesundheitsbehörden prägen. „Das andauernde Misstrauen gegenüber Ärzten und öffentlichem Gesundheitswesen, verbunden mit dem Stigma, das mit Tuberkulose verbunden ist, könnte die Bemühungen, die Krankheit zum kontrollieren, beeinträchtigen“, stellt auch das Ärztejournal fest.

Die Regierung versucht die Wohnsituation im Norden zu verbessern und hat das Testprogramm Taima TB (Stopp TB) aufgelegt. „Wir haben reagiert“, sagt Gesundheitsministerin Leona Aglukkaq, eine Inuk-Frau. Aber Matthew Stanbrook meint, es gebe im reichen Kanada „keine Entschuldigung dafür, dass wir nicht alle Ressourcen nutzen, eine heilbare epidemische Krankheit zu heilen.“ Gale Turner glaubt, dass nur mit „erheblichem politischen Willen“ die Verhältnisse, die TB fördern, geändert werden können. Aber diese Anstrengungen müssten von den Inuit geführt werden. „Wir Inuit wollen Teil der Lösung sein“, sagt sie.

© Gerd Braune
Die auszugsweise Übernahme dieses Textes ist nur mit dem Quellenhinweis „Gerd Braune“ gestattet. Die vollständige oder weitgehende Verwendung zur Publikation bedarf meiner vorherigen Zustimmung

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Dieser Text erschien redaktionell bearbeitet am 23. März 2011 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung

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